Die Europäische Union hat als supranationaler Integrationsverbund eine völkerrechtliche Qualitätsstufe erreicht, die nationales Recht und nationale Politiken dominiert. Wenn beinahe zwei Drittel der nationalen Gesetze auf EU-Recht zurückgehen und letzteres sogar einen Anwendungsvorrang vor nationalem Recht besitzt, verlagert sich die Frage nach dem Zustand demokratischer Praxen und Institutionen zwangsläufig auch auf die supranationale Ebene. Doch die Europäische Union ist alles andere, als ein nach hinreichenden demokratischen Grundsätzen arbeitender Komplex; ihr Demokratiedefizit füllt ganze Bände der politologischen Literatur. Wie es scheint, hält die überfällige Demokratisierung der EU nicht mit ihrer Integrationsverbreiterung und -vertiefung stand, zudem ist eine europäische Identität als psychosoziale Grundvoraussetzung noch lange nicht gegeben - schon gar nicht bei ihrer fast schon manischen Erweiterung.
Strukturelles:
- Demokratiedefizit Europäische Union: Die Literatur hierzu ist mittlerweile fast unüberschaubar. Symptomatisch sei die bekannte Aussage genannt, dass die EU, würde sie eine Mitgliedschaft bei sich selbst beantragen, aufgrund defizitärer demokratischer Praxen und Institutionen nach ihrem eigenen Regelwerk abgelehnt würde. Zur Veranschaulichung einige wesentliche Punkte:
- Schwache Position des Europäischen Parlaments (EP) der stetigen Zuweisung von Kompetenzen an Eu-Organe wächst deren Legitimationsbedarf, dem die Stellung des EP weit hinterher hinkt. Es gibt zu wenig Mitwirkungsrechte bei der Rechtsetzung, zu wenig Mitentscheidungsrechte bei Bestellung und Abrufung des Kommissionspräsidenten und anderer Kommissionsmitglieder. Das EP hat des weiteren einen nur sehr eingeschränkten parlamentarischen Charakter (Repräsentativversammlung wird erst dann zum Parlament, wenn ohne sie keine Rechtsakte erlassen werden können).
- EU-Rechtsetzung: EU kennt nur Verordnungen, Richtlinien etc., aber keine Gesetze. Diese dürften nur unter parlamentarischer Zustimmung entstehen. Werden Gesetze fast ausschließlich von Exekutivorganen (Rat, Kommission) initiiert und erlassen, hat die Rechtsetzung Notstandscharakter. Dennoch finden EU-Rechtsakte zu großer Zahl Eingang in die nationale Gesetzgebung und bestimmen diese maßgeblich. Nebenbei bemerkt ist die Kommission weder direkt noch indirekt durch Wahlen legitimiert.
- Keine Geltungskraft des deutschen Gleichheitsgrundsatzes: Unionsbürgerschaft bedeutet keine gleichen Stimmrechte für Unionsbürger (wird in Art. 138 EGVA nicht explizit genannt). Die Wähler des EP sind nicht die Bürger selbst, sondern die "Völker der Mitgliedstaaten"). Die Zuweisung von Abgeordnetensitzen im EP folgt politischem Kalkül und Relationen (16 deutsche Wähler haben gleiches Stimmgewicht, wie ein luxemburgischer). So bleibt die Rückkoppelung der EU-Organe an den demokratischen Verfassungsstaat die einzige Legitimationsbasis.
- Rückkoppelung an den demokratischen Verfassungsstaat: Das nationale Parlament wird zum Hauptvermittler zwischen demokratischer Legitimation und EU-Rechtsakten. Die (recht dürftige und deshalb exekutivlastige) Rückkoppelung des Ministerrates an nationale Parlamente bildet verfassungs- und demokratietheoretisch gesehen die hauptsächliche demokratische Legitimation der EU, kaum jedoch die Befugnisse des EP. So bleibt die Legitimation des EU-Ministerrats ausgesprochen schwach, denn selbst wenn man die dünne Legitimationskette über die nationalen Parlamente akzeptiert, bleiben erhebliche Defizite in der Meinungsbildung auf nationaler Ebene: europäische Themen bestimmen sehr selten den Wahlkampf, so dass kein klares Bild über die jeweiligen europapolitischen Ambitionen der Regierungsmitglieder besteht.
- Intransparente Entscheidsfindung und Agendasetting und komplexer Aufbau stellt hohe Anforderungen partizipationswillige Unionsbürger.
- Fehlende Wir-Identität: Kollektive Selbstbestimmung hat die Autonomie des politischen Gemeinwesens, Authentizität der Präferenzen seiner Mitglieder und ihre Unabhängigkeit von externen Willensakten zur Bedingung. Die Selbstbestimmung eines Gemeinwesens bedarf auch einer kulturübergreifenden Homogenität der Wertehaltungen, was im Falle der EU kam der Fall ist. Hierin zeigt sich auch, dass die Europäische Integration eine überwiegend ökonomische Integration ist, die wesentliche Merkmale einer politischen Integration noch nicht aufweist.
- Einseitige Output-Orienierung der Legitimationsmuster: Die Rechtfertigung der Integration und der damit verbundenen Rechtsakte fand stets mit Hinblick auf das effiziente Erreichen höherer Ziele statt. Waren dies in den Anfangstagen der EU noch sicherheitspolitische Erwägungen, sind es heute ökonomische / marktpolitische Zielsetzungen. Die Output-Orientierung ist im Subsidiaritätsprinzip vertraglich festgehalten: Eine Übertragung von Kompetenzen an die Europäischen Union soll dann stattfinden, wenn diese in dem jeweiligen Politikfeld besser in der Lage ist, Probleme zu lösen, als die Nationalstaaten.
Punktuelle Ereignisse:
- April 2007: Das Bundeskabinett beschließt einen Gesetzentwurf von Justizministerin Zypries zur Telefondatenspeicherung auf Vorrat. Nach dem Entschluss wird künftig erfasst und für 180 Tage gespeichert, wer mit wem telefoniert hat. Bei Mobilfunkgesprächen wird künftig zudem der Standort registriert. Dieser Entwurf ist die Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union.
- EuGH billigt den Europäischen Haftbefehl: Am 3.Mai 2007 billigt der EuGH den Europäischen Haftbefehl, nachdem eine belgische Anwaltsvereinigung dagegen geklagt hatte. Geregelt wird im EH, dass Personen von jedem EU-Mitgliedstaat festgenommen und zur Strafverfolgung oder Vollstreckung ausgeliefert werden können. Dabei wird eine Überprüfung der Strafbarkeit bei einer Reihe von zur Last gelegten Tat durch das Ausland abgeschafft, eigene Bürger müssen u.U. auch in andere EU-Länder ausgeliefert werden. Interessanter Weise sind diese 32 Straftaten in den Regelwerken z.T. sehr vage formuliert (etwa wie "Cyberkriminalität"). Mit anderen Worten kann also jeder EU-Bürger an ein anderes EU-Land ausgeliefert werden, gegen dessen Gesetz, sofern es auf einer vage formulierten Liste vermerkt ist, verstoßen haben soll - und das selbst dann, wenn die Tat im Heimatland nicht strafbar ist. Der EuGh hat zudem betont, dass die Liste durch den Ministerrat jederzeit erweiterbar ist. Der EuGH betonte auch, dass dem Ministerrat eine Entscheidung von derartiger Tragweite auch ohne die Einschaltung von nationalen Parlamenten erlaubt sei.
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