Anfang 1995 wurde den multilateralen Vertragswerken GATT, GATS und TRIPs unter dem Dach der WTO eine neue institutionelle Qualität verliehen. Fortan gab es keine nur nebeneinander existierenden Verträge mit provisorischem Charakter mehr, sondern eine Institution mit eigner Rechtspersönlichkeit, ein völkerrechtliches Subjekt. Ziel der WTO ist die Liberalisierung des Welthandels, wobei die Säule GATT den Warensektor, die Säule GATS den Dienstleistungssektor und die Säule TRIPs die geistigen Eigentumsrechte zum Gegenstand hat. Die völkerrechtlich verbindlichen Vertragswerke haben einen maßgeblichen Einfluss auf die nationale Gesetzgebung; ihre Wirkmächtigkeit sowie ihr Zustandekommen entziehen sich jedoch dem politischen Bewusstsein sowie den Partizipations- und Kontrollmöglichkeiten der allermeisten Bürger wie auch der Legislative. Dies ist im wesentlichen den intransparenten und exekutivdominierten, also demokratisch defizitären Entscheidungsvorgängen zuzuschreiben. Infrage zu stellen ist ebenso die ideologische Ausrichtung der WTO, die lediglich die Interessen eines kleinen Teils der betroffenen Bevölkerungskreise bedienen dürfte.
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Generelle Demokratiedefizite der WTO:
- Das Organisationsziel und die praktische Orientierung ist die Handelsliberalisierung, die Freihandelsdoktrin wird verabsolutiert. In der Folge werden ökonomische Regulierungen für Unternehmen abgebaut (negative Integration). Dies bedeutet wiederum eine Begrenzung der Regulierungsmacht von Nationalstaaten gegenüber TNUs, was nichts anderes bedeutet, als eine Umverteilung der Macht zugunsten Privater.
- Keine Reversibilität der Entscheidungen: Eine wesentliche Grundlage demokratischer Regime, die Reversibilität von Entscheidungen, ist in der WTO nicht gegeben. Zukünftige Regierungen sind stets an den jeweils erreichten Grad der Liberalisierung gebunden.
- Liberalisierung verstärkt die Übertragung politökonomischer Kompetenzen von demokratisch legitimierten Staatsorganen auf privatwirtschaftliche Akteure, die statt dem Gemeinwohl einem ökonomischen Zweckrationalismus dienen. Die Liberalisierung führt so zur weiteren Entdemokratisierung, da Unternehmen immer weniger Kontrollen unterliegen. Die Einflusssteigerung der ökonomischen Akteure beeinflusst einen Großteil der Weltbevölkerung in zunehmenden Maße, unterliegt aber immer geringeren Kontrollmöglichkeiten. Grundlegende Fragen, etwa nach dem Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft oder Umwelt, werden aus der politischen Steuerung weitgehend ausgeschlossen.
- Volkswirtschaftliche Konsequenzen der WTO-Entscheidungen und unternehmerischen Handelns transzendieren nationale Grenzen und erschweren eine demokratische Kontrolle.
- Die völkerrechtliche Verbindlichkeit der WTO-Entscheidungen greift in nationale Policies ein. Im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen genießt die WTO eine völkerrechtliche Vorrangstellung (im Vergleich zu anderen UN-Organisationen wie etwa zu Verbraucherschutz, Menschenrechten, Arbeit & Soziales etc.). Die Durchgriffsfähigkeit der WTO in die nationale Gesetzgebung ist derart groß (und in der Bevölkerung weitestgehend unbekannt), dass von einer "unsichtbaren Regierung" gesprochen werden kann. Dies ist um so gravierender, als mit den Abkommen TRIPS und GATS in bisher geschützte Güter der öffentlichen Daseinsvorsorge eingegriffen wird.
- Beim Kompetenztransfer auf supranationale Organisationen kommt es generell zu einem Legitimationsverlust. Gerade im Falle der WTO erfolgt eine Rückkoppelung über Regierungsmitglieder, was sie sehr exekutivlastig macht.
- Es gibt gravierende interne Demokratiedefizite in der WTO, so etwa die berühmten "Green Room - Gespräche", in denen Vertreter ökonomisch führender Länder Vorabgespräche ohne Vertreter der Entwicklungsländer führten. Ebenso sind die nötigen Ressourcen ungleich verteilt, was zu extremer Ungleichheit der Partizipationsmöglichkeiten führt. So können sich z.B. die wenigsten Entwicklungsländer teure diplomatische Vertretungen am WTO-Sitz in Genf leisten.
- Externalisierung von "non-tade-concerns": Durch die Produktion verursachte gesellschaftliche Kosten und Schäden kommen im Kategoriensystem der WTO nicht vor und werden den nationalen Regierungen überantwortet. Diese Externalisierungslogik zeigt sich im Schiedsgerichtsverfahren, das nur von Handelsexperten durchgeführt wird.
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- Fehlende externe Transparenz: Die Informationsmöglichkeiten über das Handeln der WTO sind für NGOs und andere Außenstehende sehr begrenzt. NGOs können an keinen Sitzungen der WTO-Gremien teilnehmen und müssen nicht gehört werden, der Zugang zu Dokumenten ist sehr begrenzt. Streitschlichtungsverfahren sind nicht zugänglich, der Zugang zum Sekretariat eingeschränkt.
- Konstitutionalisierung des Welthandelsrechts: Es entstehen Verrechtlichungsstrukturen, die in ihrer Intensität über die Koordinationsstrukturen des Völkerrechts hinausgehen. Es entsteht eine Rechtsordnung, die nicht mehr auf den einzelnen Staat abstellt, sondern es bilden sich übergeordnete Regulierungsinhalte, die sich auf globale öffentliche Güter beziehen. Nationales Recht wird in weiten Bereichen vom WTO-Recht zurückgedrängt und überlagert.
Demokratietheoretische Probleme mit den Konstitutionalisierungsaspekten des WTO-Rechts:
1. Nationale Parlamente, die die Verträge einst ratifiziert haben, konnten die Tragweite ihrer Entscheidungen nicht beurteilen. Eine über die Legislativen herstellbare Legitimation ist daher kaum möglich.
2. Einzelne Regulierungsgebiete entfalten eine Eigendynamik, die keinen Bezug mehr zur demokratischen Legitimierbarkeit besitzt.
3. Die Entscheidungsverfahren der WTO sind intransparent und nicht auf die gleiche Partizipation der Mitglieder ausgelegt.
- Schließlich stehen die oft zeitaufwändigen demokratischen Verfahren einer rasanten ökonomischen Entwicklung im Wege, was - vor allem bei der Dominanz einer effizienzorientierten Output-Legitimation - zu einer Vorreiterrolle der TNUs führt.
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