Staat - Judikative
Gesetzesauslegung / implizite Gerechtigkeitskonzeptionen / Rechtskultur

Wenn auf der einen Seite bei Wirtschaftsdelikten größeren Umfangs relativ milde Urteile gesprochen oder Verfahren mit Vergleichszahlungen vorzeitig beendet werden, auf der anderen Seite Bagatelldelikte mit der vollen Härte des Gesetzes geahndet werden, scheint die Justiz mit unterschiedlichem Maß zu messen. Hier stellt sich die Frage, welches implizite Gerechtigkeitsverständnis richterliche Urteile beeinflussen und aus welchen gesellschaftlichen Herrschaftskonstellationen dieses gespeist wird. Wenn die Gefängnisse durch eine restriktive Auslegung gesetzlicher Spielräume einen noch nie verzeichneten Höchststand an Gefangenen aufweisen, können daraus Aussagen über die vorherrschende Rechtskultur und den dahinterliegenden Rechtsstaat getroffen werden.

  • Wehrmachtskritik wird kriminalisiert, Täter freigesprochen: Pfingsten 2005 demonstrierten Antimilitaristen gegen ein Treffen der Gebirgsjäger Mittenwald (Wehrmachtsveteranen, ehemalige SS-Leute und Bundeswehrangehörige - von Herrn Stoiber als "unangreifbare Traditionspflege" bezeichnet. Die Polizei nahm eine Aktivistin fest, weil sie verbotene Parolen gerufen habe. Nach ihrer Verurteilung zu 40 Tagessätzen durch das Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen legte die Staatsanwaltschaft Berufung ein, weil ihr das Strafmaß als zu gering vorkam. Im Kontrast dazu: Ein paar Wochen zuvor hatte die Staatsanwaltschaft München I ein Verfahren gegen einen ehemaligen Wehrmachtsschützen eingestellt, der an der Erschießung von 4.000 italienischen Soldaten beteiligt war.

  • Amtsgericht Bochum beschließt rechtswidrige Hausdurchsuchung der Redaktion eines kritischen Internetportals: Staatliche Repression durch die Judikative gegenüber kritischen Journalisten erreicht am 5.7.2005 einen neuen Höhepunkt. Aufgrund eines vagen Verdachtes auf Urkundenfälschung, also sehr schwacher Indizien, wurden Hausdurchsuchungen bei verantwortlichen Redakteuren und Beschlagnahmungen von Computern angeordnet. Die Vorwürfe erwiesen sich später als nicht haltbar und das behördliche Vorgehen wurde als gesetzeswidrig befunden. Insgesamt fand ein völlig überzogener und unverhältnismäßiger Eingriff in demokratische Grundrechte inklusive des Grundrechts auf Pressefreiheit statt.

    Weitere Infos: www.labournet.de/ueberuns/beschlagnahme/index.html.

  • Ein ähnlicher Fall fand im August 2005 statt, als die Staatsanwaltschaft Lüneburg die Redaktionsräume der Zeitschrift anti-atom-aktuell durchsuchen und Computer etc. beschlagnahmen ließ.

    Presserklärung von aaa: www.grundrechtekomitee.de/files/articles/protestjournalisten.pdf

  • Auf dem Weg von Tat- zum Gesinnungsstrafrecht: Polizeiliche Arbeit wird zunehmend in der Bereich des sogenannten Vorfeldes von Straftaten verlagert, Prävention rückt in den Mittelpunkt des staatlichen Interesses. Hier kommen sehr weit gefasste Gefährdungsbegriffe zur Anwendung, um potenzielle Täter aufdecken zu können. Die Unschuldsvermutung wird außer Kraft gesetzt und es sind vor allem kritische Köpfe und Vereinigungen, die ins Visier der Ermittler geraten. Die Großrazzien der Polizei im Vorfeld des G8-Gipfels von Heiligendamm sind nur ein besonders deutlich sichtbares Zeichen für die schleichende Kriminalisierung kritischer Stimmen. Ein Gesinnungsstrafrecht hält Einzug in das Rechtsverständnis, das vor allem die Grundrechte jener Bürger gefährdet, die die herrschende Ideologie in Frage stellen.

  • § 129a als Einfallstor für politisches Gesinnungsstrafrecht: Mit §129a "Bildung einer terroristischen Vereinigung" wurden aktuell die Großrazzien gegen Gegner des G8-Gipfels in Heiligendamm begründet. Aufgrund seiner Unbestimmtheit eignet sich dieser Paragraf sehr gut für politisch motivierte Staatsrepression und wurde immer wieder für solche Zwecke eingesetzt. Ermöglicht wird das, indem für polizeiliche Zwangsmaßnahmen einem Verdächtigten keine konkrete Tat nachgewesen werden muss, was faktisch die Außerkraftsetzung der Unschuldsvermutung bedeutet. Auch werden die Verfahrensrechte des Beschuldigten sehr stark beeinträchtigt. Die Ermittler besitzen ausgeweitet Befugnisse bei Überwachung und Festnahme.

    Die Bildung einer terroristischen Vereinigung kann im Prinzip immer unterstellt werden. Stellt sich hinterher eine unbegründete polizeiliche Maßnahme heraus, ist eine nachträgliche Rehabilitation der Beschuldigten kaum mehr herstellbar. Auch der Klageweg wird von den Opfern des §129a selten beschritten. Kurz zur Geschichte: Der aus dem Jahre 1871 stammende Paragraf 129 ("Bildung einer kriminellen Vereinigung") wurde nach dem 2. Weltkrieg von den Alliierten abgeschafft und Anfang der 1950er Jahre vor dem Hintergrund des Kalten Krieges wieder ins Strafgesetzbuch eingefügt. In der Folgezeit nutze man ihn vor allem zur Bekämpfung der KPD und ihrer Mitglieder. In den 1976 Jahren führte man §129a ein und nutze ihn massiv zum Kampf gegen die RAF, wobei praktisch jeder, der das Zeichen der RAF an eine Wand kritzelte, verhaftet und angeklagt werden konnte. Die Anwendungspraxis des sehr umstrittenen Paragrafen zeigt, dass er eher zum Kampf gegen oppositionelle Kräfte als Terrorgruppen genutzt wurde und wird. Am 13.06.2002 beschloss der Bundestag (mit dem Stimmen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen - ganz im Gegensatz zum grünen Wahlprogramm) die Ausweitung des $129a sowie die Einführung von $129b (Einbeziehung von im Ausland operierenden terroristischen Vereinigungen) und folgte damit einer EU-Vorgabe.