Theorien der Gerechtigkeit: John Rawls vs. Michael Walzer

1. Liberalismus und Gerechtigkeit

Das Thema der Gerechtigkeit nimmt in der politikphilosophischen und insbesondere auch in aktuellen sozialpolitischen Diskussion einen hohen Stellenwert ein. Dieser erklärt sich dadurch, dass eine Konzeption der Gerechtigkeit zum einen den moralischen Bauplan des gesellschaftlichen Institutionen- und Ordnungsgefüges liefern kann. Zum anderen stellt sie die Basis einer Kritik am Bestehenden zur Verfügung und kann so zum Motor notwendiger Reformen werden. Als Vorbedingung zur Verwirklichung weiterer Werte ist die soziale Gerechtigkeit (bzgl. der institutionellen Strukturierung der Gesellschaft) die "erste Tugend sozialer Institutionen" (Rawls). Sie bedarf der verbindlichen Realisierung durch Formen der Herrschaft, welche sich wiederum durch politische Gerechtigkeit legitimiert (Rechtssicherheit, Rechtsgleichheit, Grundrechte, Bürgerrechte). Im Zentrum steht hier die Dimension der distributiven Gerechtigkeit, die das asymmetrische Verhältnis zwischen Regierenden und Regierten betrifft und sich auf die Verteilung gesellschaftlicher Güter bezieht, wie etwa Lasten, Freiheiten, Pflichten oder Machtbefugnisse. Die jeweilige Vorstellung von Gerechtigkeit ist also von grundlegender Relevanz für die Struktur einer Gesellschaft und damit für die Lebenschancen ihrer Mitglieder - die menschliche Gesellschaft ist von Grund auf eine "Distributions-, eine Verteilungsgemeinschaft" (Walzer, SDG: 27). Und so zieht die Idee der distributiven Gerechtigkeit "die gesamte Güter- und Wertewelt in den Bannkreis philosophischer Reflexionen hinein. Nichts bleibt unbeachtet oder wird übergangen; kein Merkmal, keine Besonderheit unseres gemeinschaftlichen Lebens, die sich dem aufmerksam prüfenden Blick dessen entziehen können, der nach distributiver Gerechtigkeit strebt" (ebd.).

Wenden wir uns nun dem Liberalismus zu, der heute dominierenden Ideologie, in deren Rahmen John Rawls eine adäquate Gerechtigkeitstheorie formuliert hat:

Der Liberalismus befindet sich auf dem Vormarsch. Vor dem Hintergrund der Globalisierung und des Zusammenbruchs des Staatssozialismus erweist sich die älteste aller modernen Ideologien selbst in der Nachmoderne als überaus erfolgreich. Auch wenn die Ausrufung des "Endes der Geschichte" ein wenig voreilig erscheint, weisen insbesondere die Entwicklung des Wirtschaftsliberalismus sowie die Verbreitung freiheitlich-demokratischer Werte, erkennbar an der weltweiten Abnahme autokratischer Regime, auf ein ausgesprochenes Erfolgsmodell hin. Und nicht zuletzt im heimischen Bereich zeigt sich ein ungebrochener Trend zur Mobilität und Entfaltung individueller Werte, freilich nicht ohne gegenläufige Versuche der Widergewinnung verloren gegangener Identitäten in der Rückbesinnung auf kollektive Wertehaltungen, die aktuell jedoch weit davon entfernt sind, den gesellschaftlichen Mainstream zu markieren.


Es soll nun kurz auf zentrale Postulate des Liberalismus eingegangen werden:

Kernnorm des Liberalismus, der sich im Zuge der Auflehnung des Bürgertums gegen den Absolutismus entwickelt hat, ist die Freiheit des Individuums. Dieses ist frei geboren, von Natur aus vernunftbegabt und friedfertig. Alle Menschen sind mit den gleichen basalen Grund- und Menschenrechten ausgestattet, die sich auch in der Individualfreiheit gegenüber dem Staat ausdrücken (Bürgerrechte). Um diese zu gewährleisten, bedarf es der Bändigung politischer (wie aber auch privater) Herrschaft durch eine Verfassung, die Grundlage einer repräsentativen Regierung, einer machtbeschränkenden Gewaltenteilung sowie einer rechtstaatlichen Ordnung ist. Der Gedanke der individuellen Freiheit bewirkt in ökonomischer Hinsicht die Forderung nach einer wirtschaftlichen Selbstregulierung durch Markt und Wettbewerb sowie die Freiheit des Eigentums, d.h. auch des Eigentums an Produktionsmitteln. Es wird davon ausgegangen, das die Selbstverwirklichung der Individuen auf gesellschaftlicher Ebene zu einem Ausgleich zwischen der Verfolgung von Eigeninteresse und gesamtgesellschaftlichem Wohlstand, ja sogar zu dessen Erhöhung führt. Dabei stellt das Eigentum neben der Freiheit eine zentrale Kategorie liberalen Denkens dar. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass etwa für John Locke der Schutz des Eigentums ein wesentlicher Grund für die Vergesellschaftung auf Basis eines Gesellschaftsvertrags darstellte. Dabei wendete Locke eine kontraktualistische Figur an, die in ihrer groben Form später von John Rawls angewendet werden sollte, um eine mit universalistischen und vernunftmäßig von jedermann nachvollziehbaren Grundsätzen einen ordnungspolitischen Rahmen für die individuelle Selbstverwirklichung der Menschen bereitszustellen.

Mit "A Theory of Justice" hat John Rawls die maßgebliche Gerechtigkeitskonzeption des modernen Liberalismus formuliert und der Entwicklung der politischen Philosophie einen kräftigen Anstoß gegeben, was nicht zuletzt durch die damit hervorgerufenen Kontroversen enorm stimuliert wurde. Denn kaum veröffentlicht, entzündete sich ein zuweilen heftiger Streit über Rawls' konstruktivistische Vertragstheorie. Dabei wurden ihre impliziten Annahmen sowie die verwendete Methodik insbesondere durch eine heterogene Gruppe von Kritikern bemängelt, die - in Anlehnung an ihre Liberalismus-kritische Betonung des Gemeinsinns und trotz ihrer Heterogenität - als Kommunitaristen bezeichnet wurden.


2. Rawls' Gerechtigkeitstheorie und Liberalismus

2.1. Vertragstheoretische und kohärenztheoretische Rechtfertigungsfigur

In seiner Gerechtigkeitstheorie verwendet Rawls zwei Rechtfertigungsfiguren, nämlich das Vertragsargument und den kohärenztheoretischen Rechtfertigungsmodus des Überlegungsgleichgewichts. Beide stehen in einem spezifischen Verhältnis zueinander, wobei letzterem eine übergeordnete Bedeutung zugewiesen wird, obgleich sich die kommunitaristische Kritik im wesentlichen auf das Vertragsargument konzentriert. Hier erweisen sich a) das philosophisch-methodische Vorgehen selbst sowie b) die hieraus abgeleiteten Gerechtigkeitsprinzipien als Merkmale einer liberalen Denktradition.

Vertragstheorien sind philosophische Konstruktionen, bei denen moralische Prinzipien menschlichen Handelns oder die rationale Grundlage einer gesellschaftlichen Institutionenordnung durch einen hypothetischen Vertrag begründet werden. Dieser wird zwischen freien, gleichen und rationalen Individuen im Rahmen einer wohldefinierten Ausgangssituation geschlossen, gründet sich also auf die moralische Autonomie des aufgeklärten und modernen Individuums, das frei ist, Ziele und Prinzipien seines Handelns selbst zu bestimmen (Menschenbild des Liberalismus). So beansprucht eine institutionelle Ordnung, die auf einem Vertrag beruht, dem jeder freiwillig und in wohldurchdachtem Eigeninteresse zugestimmt hat, universelle gesellschaftliche Gültigkeit. Die Regeln des Zusammenlebens und die damit einhergehende Einschränkung der individuellen Handlungsfreiheit bedarf keines außerweltlichen religiösen oder metaphysischen Prinzips mehr, sondern führt sich auf den freien und rationalen Willen autonom handelnder Subjekte zurück.


Wenden wir uns nun dem konkreten theoretischen Vorgehen Rawls' zu:

Rawls folgt der klassischen kontraktualistischen Begründungsstrategie. Diese besteht aus:

a) dem Vertragssituationsargument, das der Festlegung der idealen Entscheidungs- bedingungen in einer fiktiven Ausgangssituation im Rahmen eines für jedermann nachvollziehbaren Gedankenexperimentes dient. Die Bedingungen zwingen den Vertragspartnern einen moralischen Standpunkt der Unparteilichkeit, Allgemeinheit und Reziprozität auf. Letzteres erreicht er durch den Schleier des Nichtwissens.

b) dem Vertragsinhaltsargument, in dem sich die freien, gleichen und rationalen Vertragspartner im Urzustand und auf Basis zweckrationaler Überlegungen auf verbindliche Verteilungsgrundsätze einigen.

c) dem Vertragsbegründungsargument, das das spezielle Arrangement der fiktiven Entscheidungssituation seinerseits einer allgemein zustimmungsfähigen Begründung zuführt. Dies geschieht durch eine kohärenztheoretischen Rechtfertigungsstrategie.


Die spezielle Gestaltung des Vertragssituationsarguments umfasst bei Rawls drei Dimensionen, nämlich

a) die Konstruktion einer fiktiven Entscheidungssituation, in der gleiche, freie, rationale und egoistische Personen eine Verfassung wählen sollen, und;

b) die Auferlegung bestimmter kognitiver Beschränkungen zur Herstellung fairer Bedingungen (Schleier des Nichtwissens) und

c) eine Grundgütertheorie als entscheidungsrelevantem Bewertungsmaßstab unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien.


Im Urzustand treffen also Menschen aufeinander, die gewissermaßen idealtypisch dem liberalen Menschenbild entsprechenden (frei, gleich, rational, am Eigeninteresse interessiert). Aufgrund der gemäßigten Knappheit der Güter ist Kooperation notwendig und zweckmäßig, der Urzustand repräsentiert insgesamt das Verteilungsproblem. Rawls geht davon aus, dass sich Gerechtigkeitsprinzipien aus zweckrationalen Motivationen herausdestillieren lassen. Diese sind dann allgemeingültig und objektiv verbindlich, wenn sie mit jenen Prinzipien übereinstimmen, die "liberale Idealtypen" in einem Zustand der Gleichheit ersinnen würden.

Um einen fairen Entscheidungsprozess zu garantieren, wird den Beteiligten weiterhin eine Beschränkung ihres Wissens auf "allgemeine Tatsachen über die menschliche Gesellschaft" (Rawls, TDG: 160) auferlegt, wodurch ein moralischer Standpunkt der Unparteilichkeit erzwungen wird. Auf diese Weise werden egoistisch motivierte Entscheidungen virtuell moralisch angereichert und indirekt an die Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen gekoppelt.

Die spezielle Konstruktion des Vertragssituationsarguments korrespondiert bei Rawls mit der Unterscheidung des universalteleologischen Fundaments (Kersting), also jener sozialen Gründgüter, die sich ein Mensch ungeachtet der durch seine besondere Lebenssituation beeinflussten Ziele wünschen muss und den partikularteleologischen Inhalten. Das universalteleologische Fundament bildet die Basis für partikulare, individuelle Vorstellungen vom guten Leben, die aber erst dann wirksam werden können, wenn eigenen Lebenspläne in einer konkreten Lebenssituation Gestalt annehmen können. Die sozialen Grundgüter versetzen die Menschen in die Lage, ihre moralischen Fähigkeiten anwenden und ihre individuellen Lebenspläne letztlich verfolgen zu können, wie auch immer diese aussehen mögen. So ist es innerhalb des Urzustands rational, sich für Verteilungsprinzipien zu entscheiden, die eine maximale Versorgung an Grundgütern gewährleistet (hierzu zählen Grundfreiheiten, politische Rechte, Lebenschancen, Ämter & Positionen, Einkommen & Vermögen sowie Bedingungen der Selbstachtung).

Am Ende des Entscheidungsprozesses einigen sich die Beteiligten schließlich auf zwei Grundsätze, die einer rational gebotenen Anwendung der Maximin-Regel ("wähle das beste der schlechtesten Ergebnisse") unter Unsicherheitsbedingungen entsprechen:


1. Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstig- ten den größtmöglichen Vorteil bringen, und
b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß ihrer Chancengleichheit offen stehen.


Zwischen beiden herrscht eine "lexikalische Ordnung" (Rawls): die gleichen Freiheitsrechte haben absoluten Vorrang vor ökonomischen oder sozialen Vorteilen. Die Grundfreiheiten dürfen nicht verletzt werden, wenn hierdurch etwa ökonomische oder soziale Vorteile zu erwarten wären.

In einem letzten Schritt nun muss das geschilderte Arrangement seinerseits begründet werden. Die vernünftigen Bedingungen der Entscheidungssituation bedürfen ihrerseits einer allgemein zustimmungsfähigen Begründung. Auch durch eine logisch schlüssige Ableitbarkeit von Gerechtigkeitsprinzipien aus einer fiktiven Situation, die vernünftigerweise das Verteilungsproblem repräsentiert, kann über die Gültigkeit der Prinzipen noch keine Aussage getroffen werden. Der Urzustand selbst bedarf also einer Rechtfertigung. Hierzu knüpft Rawls an die vertragstheoretischen Figur eine kohärenztheoretische Rechtfertigungsstrategie an. Letztere dient der Explikation gerechtfertigter moralischer Prinzipien aus moralischen Alltagsurteilen. Durch die Anwendung allgemeiner Rationalitätskriterien werden hiervon die emotional verzerrten und vorurteilsbeladenen Urteile abgesondert. Anschließend werden aus den "gereinigten" Urteilen (ihren inhaltlichen Übereinstimmungen und formalen Gemeinsamkeiten) die ihnen zugrundeliegenden allgemeinen Prinzipien abstrahiert / expliziert. Nun können die moralischen Alltagsurteile in einen systematischen und wiederspruchsfreien Zusammenhang gebracht werden. Explikationsprinzipien (hypothetisch angenommene, zugrundeliegende Prinzipen) und Moralurteile befinden sich dabei in einem wechselseitigen Spannungs- und auch Lernverhältnis. Erst, wenn eine Gerechtigkeitskonzeption mit alltäglichen Moralurteilen übereinstimmt und ihr ein Regelsystem kohärente Ordnung verleiht, besteht ein Überlegungsgleichgewicht. Die Modellierung des Urzustands stellt dabei das Ergebnis eines solchen Reflexionsprozesses dar und verweist das kontraktualistische Modell auf eine nachgeordnete Stelle.


2.2 Was macht Rawls' Modell liberalistisch?

i) Vertragstheorie und Menschenbild: Die Vertragstheorie basiert auf dem liberalen Ideal des autonomen, frei geborenen, vernunftbegabten und selbstbestimmten Individuums. Dieses ist weiterhin mit a priori gegebenen natürlichen Rechten ausgestattet, deren Beschränkung durch ein Ordnungsgefüge besonderer Bedingungen bedarf (allg. Zustimmungsfähigkeit, Zugänglichkeit jeder individuellen Vernunft, Gründen in freiwilliger Abmachung). Die Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit gebieten die Notwendigkeit zur Kooperation, deren motivationale Triebfeder der individuelle Zweckrationalismus ist. Kooperation hat damit keinen altruistisch-sozialen Hintergrund, sondern dient lediglich der Herstellung günstiger Bedingungen zur Verfolgung egoistisch-persönlicher Ziele im Kontext gemäßigter Knappheit. Die so gewonnenen Prinzipien haben tendenziell universalistischen Charakter (mit Einschränkungen durch das Kohärenzmodell, s.u.) und stellen einen ordnungspolitischen Rahmen zur Verfügung, in dem Menschen frei und nach eigenen Grundsätzen leben können. Diese Rahmenordnung ist in ihrer Verbindlichkeit stets auf den freien und rationalen Willen der Individuen / Bürger zurückzuführen.

ii) Grundgütertheorie: Rawls bestimmt soziale Grundgüter als "ethisch neutrale Basis aller denkbaren Lebenspläne" (Kersting), als Grundwerte, auf die sich rationale Entscheider ohne Kenntnis ihrer Präferenzen und Ziele einigen würden. Auch hier findet eine systematische Bevorzugung von Grundgütern statt, die eher der Verwirklichung individualistischer als kommunitärer Ziele entsprechen.

iii) Der Vorrang des Rechten vor dem Guten oder der liberale Neutralitätsanspruch: Die Konzeption eines Ordnungssystems, das sich aus den rationalen Willensakten der Individuen ableitet und bei Wahrung der größtmöglichen individuellen Freiheit einen neutralen Ordnungsrahmen für die Handlungen freier Bürger bereitstellt, muss stets bemüht sein, Fragen des Guten Lebens politisch auszuklammern. Dieser Neutralitätsanspruch bezieht sich a) auf die Rechtfertigung der staatlichen Institutionen, die nicht einem bestimmten sittlichen oder religiösen Ideal dienen dürfen, und b) auf die rechtliche Gleichbehandlung verschiedener Auffassungen vom guten Leben in den staatlichen Verfahren.


3. Die kommunitaristische Kritik

3.1. Kommunitarismus als korrigierender Gegenentwurf

Michael Walzer lässt sich in dem Umfang als Kommunitarist bezeichnen, in dem er Kritik an der liberalen Theorie Rawls' übt. Beim Kommunitarismus handelt es sich jedoch um keine kohärente Theorie- oder Meinungsrichtung, sondern eher um einen Sammelbegriff für eine in den 1980er Jahren vor allem in den USA entstandene Strömung, die sich im wesentlichen a) kritisch auf Rawls' TDG und ihre Vorstellung vom atomistischen Individuum bezieht, und b) eine kritische Defizitanalyse moderner liberaler Gesellschaften unternimmt.

Zentral und auch namensgebend sind kommunitäre Ideen, die Bedeutung und Wert der Gemeinschaft wieder in den Vordergrund sozialwissenschaftlichen und philosophischen Denkens rücken wollten. Dem voraus ging eine kritische Diagnose der Postmoderne, die durch Entsolidarisierung, Werteverfall und Legitimitäts-, Identitäts- und Sinnkrisen gekennzeichnet sei. Speziell in den USA, aber auch in anderen Staaten der "westlichen Welt", beobachtete man die gemeinschaftsbedrohende Entfaltung ökonomischer Subjekte, die Folgen einer entmoralisierten Massenkultur (Motto: "anything goes") und gesellschaftliche Desintegration, die man auf die hegemoniale Ideologie des Neo-Liberalismus zurückführte. Als Ursache identifizierte man den vom liberalen Mainstream geprägten Individualismus, der die Bedeutung des Menschen als soziales Wesen vernachlässige. Gemäß dem kommunitaristischen Gegenentwurf wird der Mensch nicht als atomistisches, sondern als soziales Lebewesen begriffen, das von Kultur und Traditionen seines Gemeinwesens entscheidend geprägt wird. Das Gemeinwesen wird so zum wichtigsten Bezugs- und Definitionspunkt für das Individuum; sein Denken, Erleben und Handeln kann nicht ohne den sozialen Kontext gedacht werden. Dennoch formulieren kommunitaristische Denker kaum eigenständige Gesellschaftsmodelle, sondern sehen ihre Aufgabe vornehmlich in der Kritik des Liberalismus - weniger, um diesen zu bekämpfen, als ihn mit der Stärkung kommunitärer Werte zu ergänzen.


3.2. Kommunitaristische Kritik an Rawls' TDG

Es sollen zunächst die Kernpunkte kommunitaristischer Kritik dargestellt und diese anschließend anhand Michael Walzers Gerechtigkeitskonzeption verdeutlicht werden.

i) Kritik am Konzept des Individualismus: Im Liberalismus herrscht eine fehlerhafte Theorie der Person vor, in der die konstitutive Bedeutung der Gemeinschaft systematisch vernachlässigt wird. In kommunitaristischen Auffassung wirken sich die ungebundenen individuellen Freiheitsrechte zersetzend auf originäre Gemeinschaftsformen aus. Im Sinne einer allgemeinen Kritik an der Vorstellung vom atomistischen Individuum sind hiermit auch verbunden:

- die instrumentelle Vernunft rationaler Egoisten führt zu sozialer Fragmentierung;
- atomistische Individuen können / wollen sich nicht mit gemeinschaftlichen politischen Zielen identifizieren;
- die freiwillige Unterwerfung der individuellen Handlungsmotivation unter ökonomische Kalkulationen macht marktmäßige Effizienzkriterien zu Bewertungsmaßstäben des Handelns und entwertet die Moral;
- die Loslösung vom Gemeinwohl verursacht individuelle Bedeutungsarmut.

ii) Kritik an der universalistischen Moralbegründung: Das von Rawls (und in Vertragstheorien überhaupt) angewendete konstruktivistische Verfahren der moralischen Erkenntnisgewinnung wird der realen Situation kultureller Gemeinschaften nicht gerecht. Moralfindung bleibt aus Sicht der Kommunitaristen immer ein kulturimmanentes Verfahren. Selbst Rawls' TDG ist demnach den Traditionen moderner westlicher Gesellschaften verhaftet und bleibt höchstens für Menschen mit abendlicher Denkweise sinnvoll. Die so erfundene Moral verkennt dabei ihre eigene Kontextgebundenheit und erhebt ihren Universalitätsanspruch zu unrecht.

iii) Kritik am Neutralitätsanspruch: Die Ausklammerung von Fragen des Guten Lebens aus dem politischen Bereich, die geforderte Neutralität in der Rechtfertigung staatlicher Institutionen und Verfahren, ist für Kommunitaristen eine Chimäre. Vielmehr stützen sie sich auf implizite Annahmen über das Gute Leben, und diese beinhalten typischerweise individualistische Auffassungen (Entscheidungsfreiheit, Selbstbestimmung etc.). Damit gilt der Neutralitätsanspruch aber nicht gegenüber der gesamten Bandbreite moralischer Überzeugungen, sondern beschränkt sich auf Auffassungen, die diese individualistische Auffassung teilen.


Allgemein und verkürzt folgen daraus folgende kommunitaristische Forderungen zur Gestaltung / Korrektur politischer Gemeinwesen:

- Betonung bürgerlicher Tugenden (gemeinschaftlich / patriotisch orientiert). Staat und gesell- schaftliche Institutionen müssen moralische Erziehung verstärken. Dabei dürfen sie nicht neutral bleiben, sondern Formulierung / Durchsetzung von Werten fördern.
- Stärkung der Zivilgesellschaft, Förderung des bürgerlichen Engagements.
- Dezentralisierung staatlicher Aufgaben zugunsten lokaler Gemeinschaften (Subsidiaritäts- prinzip), Förderung direkter Demokratie und gemeinnütziger Tätigkeiten.



3.3. Die Sphären der Gerechtigkeit von Michael Walzer

Bereits Walzers methodisches Vorgehen unterscheidet sich grundlegend von dem Rawls' und stellt zugleich eine kommunitaristische Kritik dar. Nach Walzer stehen dem Philosophen, der als Kritiker Vorfindliches auf Defizite untersuchen soll, drei Methoden innerhalb zweier Kategorien des Erkenntnisgewinns zur Verfügung:

1) Universalistische Kritik: Universalistische Kriterien liegen außerhalb der objektiven Welt und lassen sich durch a) Entdeckung (Zugang des Philosophen zu einer höheren Wahrheit und zu universalistischen Normen, die den Menschen schon immer gegeben sind), und b) Erfindung (Normen werden in konstruktivistischem Verfahren von Menschen erzeugt, die einen außerweltlichen Standpunkt nachbilden) erzeugen. Beides ist für ihn nicht statthaft, weil übersehen wird, dass Moralvorstellungen einen gemeinschaftlichen, innergesellschaftlichen Entstehungsort haben.

2) Hermeneutische Sozialkritik: Die von Walzer verwendete Methode geht davon aus, dass der soziale Kontext von Normen und Werten relevant ist. Dies beruht auf der Annahme, dass die Moralität von Kulturen eine historisch gewachsene Größe und auch stets wandelbar ist. Moral entsteht durch soziale Interaktion, nicht aber durch Konstruktion. Normative und Moralvorstellungen sind immer interpretationsbedürftig. Für Walzer ist dies die einzig zulässige Methode des Erkenntnisgewinns. Nicht das Wirken atomistischer Individuen steht im Vordergrund, sondern die Produkte sozialer Gemenschaftlichkeit.


Die Gesellschaft ist für Walzer keine Kooperationsgemeinschaft unabhängiger Individuen, sondern Distributionsgemeinschaft, in der Verteilungsgerechtigkeit in einer bestimmten Beziehung zu den zu verteilenden Gütern steht. In diesem Sinne kritisiert er insbesondere das vereinfachte Verständnis von Verteilung in Rawls' TDG: Dort würden Individuum und Gut als unabhängig von einander gedacht werden, was daher auch ein unabhängiges Verteilungsprinzip erfordere. Vernachlässigt werde aber, dass es in Verteilungsgemeinschaften stets ein geteiltes Verständnis über die Verteilungsmodalitäten gebe. Walzer setzt dem seine erweiterte Vorstellung von Verteilungsprozessen entgegen, in der die kommunitäre Auffassung von der Gemeinschaftlichkeit sozialer Prozesse, also auch des Güteraustauschs untereinander, deutlich wird:

- Menschen ersinnen und erzeugen Güter, die sich schließlich untereinander verteilen. Diese Güter sind stets soziale Güter und haben keinen von den gemeinsamen Überzeugungen unabhängigen Wert. Konzeption und Erzeugung der Güter sind soziale Prozesse und damit Teil historisch gewachsener Kulturen. Daher haben sie eine gemeinschaftliche Bedeutung.
- Die Verteilungsagenten sind durch ihre Sozialisation mit dieser gemeinschaftlichen Bedeu- tung vertraut und die Vorstellung einer angemessenen Distribution ist im sozialen Gut bereits angelegt.

Walzer nennt daher eine erste kritische Maxime: alle Verteilungen sind gerecht oder ungerecht in Relation zur gesellschaftlichen Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Güter.

Bei der Verteilung von Gütern muss darauf geachtet werden, dass jedes Gut gemäß der ihm inhärenten Prinzipien verteilt wird und Übergriffe in andere Gütersphären nicht stattfinden. Eine Verteilung von Gütern unter Missachtung der Eigenlogik der jeweiligen Verteilungssphäre ist demnach ungerecht (etwa dann, wenn die Parteizugehörigkeit über den Zugang zu Bildung bestimmt). In diesem Zusammenhang als problematisch erachtet Walzer dominante Güter, die einen Inhaber in die Lage versetzen, über viele andere Güter zu gebieten, was in Ungerechtigkeit mündet. Auch wird eine Monopolisierung von Gütern als weniger bedenklich beurteilt, als eine etwaige Dominanz (außer, wenn Monopolisierung genutzt werden kann, um andere Sphären zu dominieren).

Daraus ergibt sich eine zweite Maxime: kein soziales Gut X sollte ungeachtet seiner Bedeutung an Männer und Frauen, die im Besitz eines anderen Gutes Y sind, einzig und alleine deshalb verteilt werden, weil sie dieses Y besitzen.

Hieraus folgt die Autonomie der Distributionssphären und auch die Bestimmung des Ideals der komplexen Gleichheit. Sie ist das "Gegenteil von Tyrannei" (SDG, 49) und bedeutet, dass Sphärenautonomie auf den Bürger bezogen bleibt, dass seine Position "hinsichtlich eines bestimmten sozialen Guts nicht unterhöhlt werden kann durch seine Stellung in einer anderen Sphäre hinsichtlich eines anderen sozialen Guts" (ebd.) Die gemeinschaftliche Bedeutung von Gütern und die Autonomie der Distributionssphären verweisen sodann auf den Grundsatz der Selbstbestimmung: Die Verletzung der Autonomie der Sphären verletzt die Selbstbestimmung derjenigen, die ein Gut gemäß der ihm zugeschriebenen sozialen Bedeutung verteilen wollen. Die Beeinflussung einer fremden Sphäre durch hiesige Verteilungsprinzipien gleicht so einer "illegalen Grenzüberschreitung".


Die anthropologischen Prämissen Walzers verdeutlichen den Grundsatz der Selbstbestimmung:

- Menschen gleichen sich darin, kulturproduzierende Geschöpfe zu sein. Als solche schaffen bedeutungsvolle Welten (und keine Kooperationsgebilde aus d. Summe rational-egoistischer Einzelhandlungen);
- Diese Welten können in eine Rangfolge gebracht werden, so dass Gerechtigkeit immer dann besteht, wenn diese Welten als spezielle Hervorbringungen menschlicher Kultur respektiert werden.


Dies führt zu einem inner- und intergesellschaftlichen Gerechtigkeitspluralismus, wobei jede Konzeption von Verteilungsgerechtigkeit Teil einer partikularen Kultur ist. Damit durch diese Form des Relativismus jedoch nicht jede denkbare Form der Güterverteilung legitimierbar ist, solange sie sich auf den Grundsatz der Selbstbestimmung beruft, erfährt letzterer Begrenzungen. Diese richten sich nach

a) innen: Selbstbestimmung findet nur dann statt, wenn sich jeder in den Verteilungsprozessen wiederfindet. Dies ist dann der Fall, wenn jeder Einzelne an Entsehung, Erhalt und Weiterentwicklung der relevanten gesellschaftlichen Bedeutungen partizipieren kann. Die kollektive Selbstbestimmung wird so an individuelle Selbstbestimmung zurückgebunden. Hier findet sich eine schwache Analogie zur liberalen Theorie, nach der sich das kollektive Ordnungsgefüge auf die Willensakte der freien Individuen zurückführen lassen müssen. Problematisch dabei ist, dass es zum einen schwierig ist, die Grenzen einer noch zu rechtfertigenden Lebensform zu bestimmen, und zum anderen oft kaum zwischen freiwilligem und manipuliertem Einverständnis unterschieden werden kann.

b) außen: Der Grundsatz der Selbstbestimmung stellt ebenso Anforderungen an das Verhalten gegenüber anderen Gesellschaften, denn aus dem Recht der individuellen Selbstbestimmung folgt ein Recht auf kollektive Selbstbestimmung. Der Anspruch auf eigenständige Entwicklung einer Kultur bedeutet Anerkennung desselben Rechts der anderen.


Auf diese Weise entsteht eine universale Grundnorm der Anerkennung kollektiver Selbstbestimmung.

Damit hat sich nun doch eine universalistische Norm in Walzers Theorie eingeschlichen. Der Grundsatz der kollektiven Selbstbestimmung kennzeichnet einen moralischen Minimalismus im Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und auch in den internationalen Beziehungen. Für ihn sind folgende Punkte wichtig:

- Er existiert nicht unabhängig von den partikularen Moralauffassungen kultureller Gemein- schaften.
- Es handelt sich um einen nicht-transzendenten Universalismus, der lediglich einige immer wiederkehrende Merkmale partikularer Moralauffassungen beschreibt. Er lässt sich auch nicht isolieren, um etwa eine bestimmte Moral daraus abzuleiten.
- Das moralische Minimum kann nur in der jeweils eigenen moralischen Sprache formuliert und auch nur aus dem Inneren einer partikularen Kultur betrachten werden (also nicht isoliert).
- Es kommt zum Ausdruck in spontaner Solidarität mit den Opfern der Folter etc., in der Empörung gegenüber Ungerechtigkeit oder in der Diskussion über Menschenrechte.


4. Diskussion

Wie bereits im vorangegangenen Text beschrieben, folgt Rawls' TDG im wesentlichen den Denkschemata des Liberalismus. Seine kontraktualistische Rechtfertigungsfigur basiert auf dem liberalistischen Menschenbild des freien, gleichen, rationalen, selbstbestimmten und egoistischen Individuums, das unter den spezifischen Anwendungsbedingungen der Gerechtigkeit zur Kooperation gedrängt wird. Gesellschaft erscheint hier als Kooperationsprojekt atomistischer Individuen und ist Ergebnis wohldurchdachter und allgemein zustimmungsfähiger Individualentscheidungen. Gemäß dem methodologischen Individualismus ist Gesellschaft das Ergebnis der Wechselwirkungen von Individuen. Aus diesen Überlegungen heraus formuliert Rawls universalistische Normen und erhebt einen Neutralitätsanspruch für den sich daraus ergebenden Ordnungsrahmen.
Bei Walzer scheinen die Dinge zunächst ähnlich eindeutig zu liegen. Das Menschenbild ist ein völlig anderes, denn wie im methodologischen Kollektivismus ist das Individuum nicht ohne den gemeinschaftlichen Kontext zu denken und die kollektive Ebene stellt weit mehr dar, als die Summe individueller Wechselwirkungen. Sie besteht aus Tradition und Geschichte, sie bestimmt die Individuen nachhaltig, wird aber ebenso von diesen geprägt und geformt. Deshalb können moralische Normen auch nur auf interpretatorische Weise ermittelt werden, und nicht realitätsfremd erfunden, wie etwa in der Modellierung des Urzustands. Der Vorrang des Guten vor dem Rechten weist darüber hinaus darauf hin, dass der soziale Kontext immer schon Normvorstellungen bereithält, die höchstens nachtäglich herausdestilliert werden können. Und doch kommt auch Walzer nicht umhin, eine schwache universalistische Norm zu formulieren, da eine ungebremste Selbstbestimmung theoretisch ins Chaos führen könnte.
Das Konzept der Selbstbestimmung ist es auch, das Walzers Konzeption mit einem typisch liberalen Element anreichert, denn eine strikte Kontextgebundenheit der Individuen stünde einer effektiven Selbstbestimmung naturgemäß entgegen. Auch schließt eine kulturimmanente Moralfindung das Aufdecken universaler Normen, etwa als Schnittmenge der einzelnen Moralmengen nicht kategorisch aus (jedoch könnte man den moralischen Minimalismus auch in dieser Richtung interpretieren).

Umgekehrt relativiert sich der liberalistische Charakter der TDG, sobald man eine partikularistische Lesart anwendet, die - folgt man Rawls' Ausführungen exakt - die bevorzugte Perspektive bilden sollte. So handelt es sich beim kohärenztheoretischen Rechtfertigungsmodus, bei dem das kollektive Überlegungsgleichgewicht aus den Wertehaltungen der Mitglieder ermittelt wird, offensichtlich um eine interpretatorische Methode. Das Vertragsargument nimmt dabei nur eine nachgeordnete Bedeutung ein, denn die Bedingungen der Vertragssituation und die daraus resultierenden Gerechtigkeitsprinzipien sind Ergebnisse von Überlegungsgleichgewichten. Beides kann modifiziert werden, sollte es mit den moralischen Alltagsurteilen der Beteiligten konfligieren. Auf diese Weise bleibt die Vertragssituation kein außergesellschaftlicher Standpunkt, sondern wird von den partikularen Wertehaltungen seiner Mitglieder bestimmt.



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