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Berliner Streifzüge, November 2006: Gropiusstadt, Kreuzberg (SO36), Potsdamer Platz

Mit dem Rad durch die Gropiusstadt

Gropiusstadt 1
Imagewerbung getreu dem Motto: "Und man kann eben doch hier wohnen..."
Der Berliner Gropiusstadt eilt in aller Regel kein allzu guter Ruf voraus. Graue Wohnblocks, soziale Probleme, Wohnmaschinen in Beton und eine bedrückende Atmosphäre sind das, was man nicht zuletzt seit Christiane F's . "Wir Kinder von Bahnhof Zoo" damit verbindet. Der Bahnhof Zoo hat sein Erscheinungsbild seit den düsteren Siebzigern stark ins Positive gewandelt, und auch die Gropiusstadt blickt nach einigen städtebaulichen Faceliftings ein wenig sympathischer drein. Dennoch, die Wohnhochhäuser aus den 1960er und 1970er Jahren ragen nach wie vor in den südberliner Himmel, und auch neue Begrünungen und buntere Fassadenanstriche können nur schwer den grundsätzlichen Charakter dieser Großsiedlung kaschieren. Was schade ist, denn mit Walter Gropius trägt sie den Namen eines der elaboriertesten und einflussreichsten Architekten im Titel, den die moderne Geschichte kennt.

Bereits 1958 angedacht, erhielt das Großsiedlungsprojekt im Süden Neuköllns mit dem Mauerbau 1961 neuen Auftrieb. Die Abriegelung Westberlins führte zu einer Verknappung und Verteuerung von Bauland, was die Konzentrationsdichte von Wohnungen in den stadtplanerischen Konzepten erhöhte. So galt auch für das Projekt "Berlin-Buckow-Rudow", wie die spätere Gropiusstadt damals genannt wurde, mehr und mehr die Devise Quantität statt Qualität. Errichtet werden sollte die Großsiedlung auf den Agrarflächen der damals noch kleinen Dörfer Britz, Buckow und Rudow, also auf der grünen Wiese vor den Toren Berlins.

1959 erklärt Walter Gropius (1883 - 1969), Gründer des richtungweisenden Staatlichen Bauhauses zu Weimar, seine Bereitschaft zur Mitarbeit. Zusammen mit seinem Bostoner Architekturteam TAC (The Architects Collaborative) erstellt er zwei Bebauungspläne, von denen der zweite als Überarbeitung des ersten kurz vor der Grundsteinlegung (7. November 1962) den Berliner Stellen präsentiert wurde. Die 16.000 Wohnungen sollten demnach zu 60% in zwei- bis dreigeschossigen Gebäuden untergebracht werden, die restlichen in acht- bis vierzehngeschossigen Hochhäusern. Die Wohndichte sollte durch auflockernde Flächen (Grün- und Wasserflächen) auf einem erträglichen Niveau gehalten werden, außerdem sollten viele Fußwege die Siedlung erschließen. Gropius orientierte sich dabei konzeptionell an der Bruno Tauts Hufeisensiedlung und wollte ein angenehmes, luftig-sonniges Wohnumfeld schaffen.

Gropiusstadt 2
Das halbrunde Gropiushaus
Im Laufe der bis in die 1970er Jahre andauernden Bauphase entfernte sich das, was auf den ehemaligen Agrarflächen entstand, immer weiter von Gropius' Plänen. Unter dem Einfluss ökonomischer Interessen und der zunehmenden Baulandknappheit kam es zu einer Änderung des Leitbildes, das fortan "Urbanität durch Dichte", und nicht mehr "Dichte durch Auflockerung" lautete. Die Einbeziehungen einer Reihe anderer Architekten sowie Unstimmigkeiten in den behördlichen Kompetenzen taten ihr Übriges. Auch verlangte die wachsende Motorisierung der Bevölkerung nach immer mehr Stellplätzen für die Fahrzeuge, denen schließlich auflockernde Grünflächen zum Opfer fielen. Zu alledem war Walter Gropius in seinem Bostoner Büro sehr weit weg vom Berliner Geschehen und kritisierte schließlich heftig die gesteigerte Wohnraumverdichtung wie auch Höhe der Wohngebäude.

Gleichwohl wurde die neue Großwohnsiedlung "Berlin-Buckow-Rudow" im September 1972 ihm zu Ehren in Gropiusstadt umbenannt. Parallel zur Errichtung der Gebäude wurde das Arreal auch verkehrstechnisch erschlossen, was sich insbesondere in der Verlängerung der U-Bahnlinie 7 zeigt, die sich oberirdisch als zumeist begrünte Leitlinie durch die Siedlung zieht. Eine der letzten größeren Aufwertungsmaßnahmen war 1994 die Errichtung der "Gropius-Passagen", einem modernen Einkaufszentrum mit angeschlossenem Parkhaus.

Gropiusstadt per Fahrrad.

Gropiusstadt 3
Das Ideal-Hochhaus
Von Neukölln aus fahren wir los in die nahgelegene Gropiusstadt. Als kompetenter Fremdenführer begleitet mich mein alter Schulfreund S. Neubauer, den es vor einigen Jahren in die Hauptstadt verschlagen hat. Auf einem alten Klapperrad geht es ab nach Britz, und schon bald künden immer eintöniger wirkende Wohnblocks von der Nähe der Großsiedlung.

Unser erstes Ziel ist das bekannte Gropiushaus, das sich wie ein Amphitheater halbkreisförmig um eine dahinterliegende Parkanlage schmiegt. Die Anzahl der Wohnungen ist beträchtlich, auch wirkt das dunkle Grau der Fassaden wenig aufheiternd. Daran ändern auch die kreisförmigen Balkone vor den Treppenhäusern nichts, die ein wesentliches Element dieser Gropius'schen Architektur darstellen. Umweit des Gropiushauses ragen mit dem Ideal-Hochhaus beeindruckende 89 Meter Beton in den Süd-Neuköllner Himmel. Dieses ebenfalls von Gropius (in Zusammenarbeit mit Alexander Svianovic) entworfene Gebäude in der Fritz-Erler-Allee ist mit seinen 32 Etagen das höchste Wohnhochhaus Berlins.

Gropiusstadt 4
Weitblick von der 32. Etage des Ideal-Hochhauses
Wir stellen die Räder ab und schlüpfen zusammen mit ein paar Bewohnern durch den Eingang. Mit dem Aufzug geht es ganz noch oben in die 32. Etage, wo sich kurioser Weise zwei Gästewohnungen und ein Gemeinschaftsraum befinden. Vom Treppenhaus erreicht man einen Balkon, von dem aus sich ein fantastischer Weitblick über die Stadt bietet. Lange erkunden wir die Gegend aus dieser außergewöhnlichen Perspektive.

Wieder unten, statten wir den Gropius-Passagen in der Johannistaler Allee einen Besuch ab. Dieses 1994 zur sozialen Aufwertung der Großsiedlung errichtete Einkaufszentrum beherbergt die üblichen Filialisten, die in Tausenden anderer Passagen und Einkaufszentren zu finden sind. Aufwertung durch Konsum - diese einseitige und eindeutig marktwirtschaftlich geprägte Vorstellung von Lebensqualität dürfte spätestens in den unzähligen Hartz IV - Haushalten als ideologische Lebenslüge entlarvt werden.

Wir schauen uns in ein paar Läden um und radeln weiter zum Einkaufszentrum Wutzkyallee, einem zweiten Konsumtempel, der architektonisch eine Epoche älter ist und so besser in das Umfeld Gropiusstadt passt - im negativen Sinne. Ganz in der Nähe befindet sich übrigens der alte Jugendtreff von Christiane F., der heute immer noch in Betrieb ist. Vor dem Einkaufszentrum findet gerade ein kleiner Markt statt. Die wenigen Städe verlieren sich ein wenig im Schatten der umliegenden Betonmassen, verleihen der Gegend aber ein klein wenig mehr Menschliches.

Gropiusstadt 5
Skulptur vor Beton
Die ideale und m.W. einzige passende Hymne für die Gropiusstadt stammt übrigens aus der Feder von David Bowie. Als er Ende der 1970-er Jahre zusammen mit Iggy Pop ein paar fiebrige Jahre in Berlin (Schöneberg) verbrachte, musste er auch Neukölln und die Gropiusstadt auf sich wirken gelassen haben. Auf der B-Seite seines empfehlenswerten Albums "Heroes" findet sich das sphärische Stück "Neukölln", das so treffsicher wie kaum eine andere künstlerische Entäußerung jene Atmosphäre beschreibt, wie sie vor rund 30 Jahren in der Wohnfabrik geherrscht hat. Selbst heute, nach vielen Auflockerungs- und Aufwertungsmaßnahmen im Vietel, treffen Bowies Klänge sicher ins Schwarze - die ideale Hintergrundmusik für einen Bummel durch die Straßen!

Wir lassen noch ein paar Eindrücke auf uns wirken und machen uns auf den Rückweg. Nächstes Ziel: Kreuzbergs Hinterstube und das Kotbusser Tor.

SO 36, der Kreuzberger Hinterhof

Kreuzberg 1
Am Kotbusser Tor
Wer an Kreuzberg denkt, hat zumeist türkisch-deusches Multikulti, an "Klein Istanbul" heruntergekommene Gebäude, die Hausbesetzerszene, alternative Wohnprojekte und einen harten, dreckigen Kiez im Kopf. Das stimmt nur zur Hälfte, denn das gleichnamige Viertel rund um die höchste natürliche Erhebung Berlins, den 66 m hohen Kreuzberg, hat auch eine andere, eher bürgerliche Seite. Das Erstgenannte findet sich vor allem im Bereich des ehemaligen Postbezirks SO 36 (Süd-Ost 36), der vor der Wende wie eine Nase nach Ost-Berlin hineinragte, zu großen Teilen von der Mauer umschlungen war und eine Art Halbinseldasein führte. Hier war ein wichtiger Konzentrationspunkt der Hausbesetzer-, Alternativ- und Protestszene; von hier gingen und gehen regelmäßig Krawall- und Protestzüge aus.

Die Gegend um das Kottbusser Tor ist vielleicht kein typisches Beispiel für das urtümliche und klischeehafte Kreuzberg, dafür aber eines für die Provozierung sozialer Schwierigkeiten durch eine kurzsichtige Stadtplanung. Vor den 1970-er Jahren befand sich an dieser Stelle noch die alte Bebauung aus der Gründerzeit. Die dunklen, verschachtelten und rundum altertümlichen Gebäude passten nicht ins Bild der progressiven Stadtentwickler, was durchaus nachvollziehbar ist. Doch anstelle einer weitsichtigen Baupolitik riss man die Backsteinhäuser kurzerhand ab und pflanzte an die Stelle den sterilen Hochhauskomplex des Neuen Zentrum Kreuzberg. Das kühle Gebäude mit seinen unübersichtlichen Ladenzeilen und Treppenhäusern entwickelte sich zu einem Treffpunkt für Drogenkonsumenten und -händler. Auf dem davor liegenden Platz am U-Bahnhof Kottbusser Tor sowie dem Wassertorplatz ist häufig eine verstärkte Polizeipräsenz zu beobachten, denn auch ist der Rand der Gesellschaft öffentlich präsent.
Kreuzberg 2
Rückfront des Hochhauskomplexes Zentrum Kreuzberg
Im Inneren des Gebäudes befindet sich die Mevlana-Moschee, die als eine der größten des Bezirks einer konservativ bis fundamentalistischen Gemeinde gehört. Ein Stockwerk darüber ist Sitz des Kurdischen Hauses

Das Gebiet ist nicht nur Schauplatz von Drogenliebhaberei und -kriminalität, sondern auch von intra-ethnischen Konflikten. Im Januar 1980 wurde am Kottbusser Tor der türkische Gewerkschaftler und Lehrer Calettin Kesim von Angehörigen der rechtsradikalen türkischen Gruppierung "Graue Wölfe" niedergestochen. Er verblutete auf offener Straße. Eine Bronzestele des Bildhauers Hanef Yeter erinnert heute daran.

Von seiner Rückseite aus betrachtet, bietet das Neue Zentrum Kreuzberg einen kühlen und abweisenden Anblick. Es kontrastiert schroff mit der alten Bausubstanz der angrenzenden Straßenzüge. Die Kahlschlagsanierung nach dem abstoßenden Vorbild am Kottbusser Tor konnte hier Dank veritabler Mieterproteste verhindert werden, die insbesondere von den Geschäftsinhabern ausging, die um ihre Laufkundschaft fürchteten. Mit Erfolg, denn der "Berliner Häuserkampf" leitete über in eine akzeptable Politik der behutsamen Sanierung.

Potsdamer Platz 1
Potsdamer Platz, Blick in Richtung Torhäuser
Nachdem wir uns die Gegend um das Kottbusser Tor gründlich angesehen haben, pedalieren wir weiter zu den nun touristisch interessanten Stadtteilen. Vorbei am Alexanderplatz, der mal wieder eine zugige Großbaustelle ist, geht es zum Potsdamer Platz und damit zu einem Beispiel für moderne Großmannssucht und Protzerei. Auf "Europas größter Baustelle" entstand nach dem Mauerfall ein blitzeblankes und völlig neues Stadtviertel, das sich nicht nur auf das ehemalige Areal des alten Potsdamer Platzes beschränkt, sondern Teile der umliegenden Bereiche einbezieht. Viele prestigeträchtige Großprojekte wurden gleichzeitig in die Höhe gezogen und den Boden gebuddelt (Tiergartentunnel), ohne sich dabei um die eigentlichen Akteure eines urbanen Gebietes zu scheren, nämlich die Menschen.

Im Vordergrund stand der Wunsch nach ökonomischer Repräsentation sowie die schon an anderer Stelle benannte marktwirtschaftlich geprägte Vorstellung von Aufwertung / Lebensqualität durch Konsum. Planerisch wurde hier mit den beliebten "Public Private Partnership" - Modellen gearbeitet, was städtischen Stellen einen weiten Raum an Mitgestaltungsmöglichkeiten aus der Hand nahm. Realisiert wurde am Ende ein steriles Ensemble an repräsentativen Prachtbauten, die den flanierenden Menschen nur Kulisse für konsumorientierte und -konforme Handlungen sind. Alles andere wird erst gar nicht zugelassen, abweichendes Verhalten von den Schwarzen Sheriffs der privaten Sicherheitsdienste umgehend des Platzes verwiesen - letzten Endes eine ökonomische Okkupation des öffentlichen Raumes.

Potsdamer Platz 1
Potsdamer Platz: Nichts wie weg...
Eines der auffälligeren Gebäude am Platz (außer den drei markanten Torhäusern), ist das zum Sony-Center gehörende überdachte Forum von Helmut Jahn, dessen rund 4.000 qm Fläche von einem zeltartigen Glasdach überspannt werden. Hier kann man flanieren, teuren Kaffee trinken, Eis essen und irgendwelchen Kram kaufen, der unterhalb des Daches angeboten wird. Hier sprechen uns auch gleich private Wachleute an, doch bitte von den Rädern zu steigen. Wir wollen die gediegene Atmosphäre gelangweilten Konsums nicht stören und leisten den Anweisungen folge. Das Forum bietet sich an als Einstieg für einen Shoppingrausch, der in den nahegelegenen Arkaden bis zum Delirium gesteigert werden kann. Hier findet sich eine Zusammenballung von Geschäften unterschiedlichster Art und Couleur auf einer Fläche von 40.000 qm, inklusive einer unvermeidlichen Tiefgarage . Ein entmenschlichtes Viertel, geschichts- und gesichtslos aus dem Boden des ehemaligen Grenzlandes gestampft zeigt deutlich, welche Art der Stadtplanung an herausragenden innerstädtischen Orten zu Zeiten einer post-industriellen Gesellschaftsformation favorisiert wird.

Wir nehmen eine Reklametafel am Bahnhof Potsdamer Platz wörtlich und suchen das Weite (siehe Bild).


FS auf dem alten Stadt-Drahtesel (Foto: S. Neubauer)








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