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Dänemark, Nordwest-Jytland: Strandwanderung zu Buhne 42

Strandwanderungen zu Buhne 42 (zwischen Thyborøn und Vrist)


Der Blanke Hans
Die dänische Nordseeküste, oder besser die Westseeküste, wie sie von den Einheimischen treffender genannt wird, ist im Herbst fast immer Schauplatz von stürmischen Winden, dunklem Himmel und einer tosenden See. Wenn man das Glück hat, zu dieser Zeit dort zu sein, schreien die Strände geradezu danach, erwandert zu werden. Mit dicken Klamotten und einer Portion Abhärtung ausgerüstet, lässt es sich stundenlang über die endlosen Sandstrände wandern.

Eigentlich könnte man die gesamte Westküste Jytlands von Esbjerg bis nach Skagen hinaufwandern, ohne nennenswerte Unterbrechungen oder Hindernisse umgehen zu müssen. Und wenn es mal welche gibt, dann sind es insbesondere Hafenanlagen der größeren Städte oder die Öffnungen von Limfjord und Ringkøbingfjord, die Abweichungen von der gedachten Diretissima einfordern. Allerdings gibt es auch ganz andere Hindernisse an Jytlands fantastischem Strand.



Am Ende der Welt in Thyborøn
Der kleine Ort Thyborøn liegt am Ende der Harboøre Tange genannten Landzunge, die sich südlich der Öffnung des Limfjords in die Westsee bis ins Dorf Harboøre erstreckt. Da sich die Landzunge an die acht Kilometer zwischen Meer und Nissum Bredning, dem großen Fjordbecken, hinzieht und auch das südliche Festland eher eine Einöde ist, kann man sich in Thyborøn schon ein wenig wie am Ende der Welt vorkommen.

Es gibt nichts Aufregendes in dieser Ortschaft, höchstens vielleicht die Fähre, die auf die andere Seite der Fjordöffnung schippert und so das Weiterreisen ermöglicht. Ansonsten gibt es außer trüben Häuschen einige riechende Fischfabriken und andere Industriebauten. Als wichtige Sehenswürdigkeit wird in Reiseführen gerne das Snegelehuset gehandelt, ein über und über mit Muscheln bedecktes Haus, das das Lebenswerk eines verrückten Fischers ist. Es gibt sogar Bus-Parkplätze in der Nähe dieser Kitschburg.


Eine Buhne in aufgewühlter See
Vrist ist ein winziges Dorf zehn Kilometer südlich von Thyborøn, das neben einem kleinen Kern eine mittelgroße Peripherie von Ferienhäusern besitzt, die gerne von Deutschen zu Urlaubszwecken gemietet werden. Es liegt direkt an der Küste, so dass man von seinem Ferienhaus nur über die Dünen zu fallen braucht, um dem Blanken Hans Auge in Auge gegenüber zu stehen.

In das Wasser hinein ragen in regelmäßigen Abständen steinerne Wälle, sogenannte Buhnen, die den Zweck haben, der Brandung die Kraft zu nehmen und das labile Küstenland zu schützen. Jahr für Jahr nagt das Meer den sandigen Boden Jytlands heraus und bedroht seine Bewohner. Der Wind tut sein Übriges. Als Reaktion befestigte man die Dünen mit Pflanzenbewuchs und legte an verschiedenen Stellen Buhnen an. Zwischen Vrist und Thyborøn ist so eine Stelle.

Außer den Buhnen liegen hier noch die Überreste vieler Wehrmachtsbunker aus dem Nordatlantikwall (wie eigentlich an der gesamten dänischen Westküste) im Sand und zeugen von der einstigen Gewalttätigkeit des südlichen Nachbarlandes. Heute versinken die Betonklumpen langsam im Sand und verbreiten im düsteren Zwielicht herbstlicher Tage bisweilen skurrile und unheimliche Eindrücke.

Deutsche Hinterlassenschaften


Auch wenn die Streckenführung es nahe legt, eine ungestörte Strandwanderung zwischen Vrist und Thyborøn ist so ohne weiteres nicht möglich. Dabei böte sich, wenn man in Vrist unterkommen ist, eine Strandwanderung an den Endpunkt der Landzunge und die Seeöffnung des riesigen Limfjordes fast schon zwingend an.

Der Grund für die unwillkommene Unterbrechung des kontemplativen Sandtretens sitzt auf Rønland, einer landwärts gerichteten Verdickung der Harboøre Tange, und ist weithin sichtbar: das Chemiewerk Cheminova. Der potente Hersteller agrochemischer Produkte (Pestizide, Herbizide, Fungizide etc.) besetzt mit seinen Gebäuden die gesamte Halbinsel und wurde vor Jahren auch deshalb hier angesiedelt, um der in wirtschaftlicher Hinsicht eher marginalen Region ein wenig auf die Beine zu helfen. Man könnte es aber auch andersherum sehen und meinen, das Werk sei hier so weit entfernt wie möglich von der restlichen dänischen Ziviliation errichtet worden, um möglichst ungestört chemische Süppchen kochen zu können.

Cheminova liegt zudem hinter Deich und Dünen und ist so von den touristisch relevanten Gebieten aus nicht zu sehen. Es sei denn, man befährt die Landstraße 181 oder die kleine Bahnlinie, auf der außer Personen ein guter Teil der chemischen Fracht transportiert wird. Oder man macht eine Strandwanderung von Vrist nach Thyborøn.


Cheminova-Werk auf Rønland
Die Buhnen sind nummeriert, so dass man beim stundenlangen Wandern eine Ahnung davon bekommt, wie weit man schon gegangen ist. Das ist in der eintönigen, meditativen Strandlandschaft vorteilhaft, weil alles gleich aussieht und man kaum navigatorische Anhaltspunkte hat. Man wandert stundenlang vor sich hin und weiß anhand der Buhnennummer, wo man sich ungefähr befindet.

Geht man in Vrist los, lässt man nach einem Dutzend Buhnen bald den Badestrand hinter sich, auf dem sich im Sommer viele Sonnenhungrige tummeln und in Herbst und Winter nur noch einige Wenige zu windigen Wanderungen hinreißen lassen. Ab Buhne 35 ändert sich das immergleiche Bild am Horizont langsam. Anstelle des nie enden wollenden Einerleis schälen sich langsam Formen heraus, die sich beim weiteren Näherkommen als Bagger und Baustellenfahrzeuge herausstellen.

Hat man das Terrain schließlich erreicht, beendet ein Zaun jäh die Wanderung und zwingt zum Verlassen des Strandes. Dem Wanderer bleibt keine andere Wahl, als entlang der Absperrung die Dünen hochzuklettern, von wo der Blick dann unbehindert auf das gegenüber liegende Cheminovawerk fällt. Ärgerlich ist daran zunächst einmal, dass es keine wandertechnischen Hinweise gibt. Denn will man das Areal am Zaun entlang umrunden, muss man durch die feuchten und schlammigen Salzwiesen hinter den Dünen waten. Und diese haben es laut der verstreuten Hinweisschilder in sich. Man ging wohl nicht davon aus, dass sich die Touristen allzu weit von ihren Unterkünften wegbewegen.


Warnung vor dem Umweltverbrechen
Bei der zwangsweisen Umrundung der Baustelle sticht dem Wanderer ein übler Gestank in die Nase, der aus dem vergifteten Sand zu kommen scheint. Diesen buddeln die Bagger und schweren Baugeräte auf dem umzäunten Bereich wohl zur Dekontaminierung aus. Es wird sofort klar, dass hier ein nicht unerhebliches Umweltverbrechen begangen wurde - und der Blick fällt unwillkürlich auf die Anlagen der Cheminova. Auf einigen wenigen gelben Warnschildern steht dann auch zu lesen:

"Auf Grund der Umweltverschmutzung von einer früheren Chemieabfalldeponie bei der Buhne 42 wird der Aufenthalt am Strand zwischen den Buhnen 42 und 43 abgeraten. Ebenfalls wird der Aufenthalt auf dem beschilderten Wiesengebiet abgeraten. Baden und Fischerei zwischen den Buhnen 39 und 45 ist verboten."

Mal davon abgesehen, dass es von etwas abraten heißt - was hat eine Abfalldeponie direkt am Strand zu suchen, zumal sommers nicht weit davon entfernt zig Touristen ihrem Badevergnügen frönen und zwischendurch die Waren lokaler Fischer verspeisen? Die Deponie wird wohl eher mit der früheren Suche der Cheminova nach der günstigen Entsorgung ihrer Chemieabfälle zusammenhängen. Rein in die Fässer und ab ins Meer, werden sich die Konzernbosse damals gedacht haben, schließlich zahlt man Steuern und sorgt für Arbeitsplätze. Dafür, dass man die Deponie bereits 1981 ausgebuddelt hat, stinkt die Baustelle noch ziemlich gewaltig. Es ist genügend Giftbrühe im Boden geblieben, um das Baden und Fischen im näheren Umkreis zu verbieten. Vielleicht hat man auch nur deshalb so wenig Warnschilder aufgestellt, weil der Gestank schon für sich spricht.


Arbeiten an der Stranddeponie
Externalisierung ist das Stichwort, dass sich dem Wanderer in den Dünen unwillkürlich ins Gehirn brennt. Hat man bis dahin auf der meditativen Strandwanderung über den Sinn des Lebens oder ähnliches nachgedacht, denkt man ab Buhne 42 über Externalisierungen nach. Gewinne werden privat eingestrichen, Geld wird privat erwirtschaftet. Der Dreck, das Risiko und Teile der Kosten werden der Allgemeinheit überantwortet - und eine intakte Umwelt ist ein lebensnotwendiges Allgemeingut, auf das in letzter Konsequenz auch der Fortbestand der menschlichen Spezies angewiesen ist.

Die Deponie bei Buhne 42 ist dabei nur ein symptomatisches Beispiel für das verantwortungslose Handeln einer in auffällig großen Teilen gewissenlosen Ökonomie. Die angerichteten Schäden lassen sich hier allerdings gut beobachten, auch wenn es überall auf der Welt spektakulärere Fälle dieser Art gibt. Dennoch, gerade in der Einöde der nordwest-jytländischen Westküste kontrastieren Deponie und Fabrik besonders stark mit der Verletzlichkeit der natürlichen Umgebung.


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