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Vejlby, Westjytland (Dänemark), November 2008

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Inhalt

  • Teil 1: Gesichter der See
  • Teil 2: Gesichter des Landes

Teil 1: Gesichter der See

Sanftmut




Sonnenaufgang nach einer frostklaren Nacht
Die See hat viele Gesichter. Eines davon ist ihr sanftes, das sie besonders nach sternklaren Nächten aufsetzt, in denen es im Herbst schon einmal Frost geben kann. Wenn eine goldene Sonne die mit Raureif überzogenen Dächer der Häuser wie mit kräftigen Ölfarben anmalt, kann man sich fast sicher sein, dass die See friedvoll ist. Ein kurzer Gang über die große Düne, ein paar Schritte durch den gefrorenen Sand, und wir lassen uns vor einer ruhig wogenden Nordsee, die in Westjytland auch Westsee ("Vesterhavet") genannt wird, den kalten Morgenwind durchs Haar streifen.

Wir sind in Vejlby Klit, mal wieder im schönen Westjytland, im herbstlichen November. Das kleine Örtchen an der Nordseeküste liegt ein paar Kilometer südlich des großen Limfjordes, der Jytland von Osten nach Westen durchtrennt und Nordjytland, das nicht weit von uns entfernt beginnt, zu einer Insel macht. Wir haben uns eines der typischen Ferienhäuser gemietet, die den Großteil der Bausubstanz ausmachen. Im Sommer ist hier die Hölle los, denn der Strand ist breit und das Meer bietet jede Menge Badefreuden. Jetzt, mitten im Herbst, sind die meisten Ferienhäuser verwaist und der Strand über viele Kilometer fast menschenleer. Das fahle Licht der tiefstehenden Sonne verleiht der herben Landschaft eine besonders eigenwillige Stimmung. Die ideale Zeit, um Körper und Geist von den nordischen Elementen wieder auf Kurs bringen zu lassen.



Ruhiges Meer am Vormittag


Blick in Richtung Ferring
Die Wolken verziehen sich und machen einem blauen Himmel Platz. Die See schwappt leise vor sich hin. Deutlich sichtbare Gezeiten wie im weiter südlich gelegenen Wattenmeer gibt es hier nicht, zu steil fällt der Meeresgrund ab. Wir stapfen durch den Sand in Richtung Süden, wo das Örtchen Ferring mit dem weithin sichtbaren Leuchtturm Bovbjerg Fyr liegt. Irgendwann taucht das auf einem 46 Meter hohen Hügel thronende Leuchtfeuer auf, scheint zum Greifen nahe. Doch nur allzu schnell verschätzt man sich in der Eintönigkeit des kilometerlangen Strandes mit den Entfernungen. Ein Blick hinter die Dünen, wo der vom Meer abgetrennte Ferring-See liegt, zeigt, dass es noch ein sehr weiter Weg ist. Für eine erste Wanderung reicht die Strecke, denn langsam bricht die Abenddämmerung herein - hier wegen der höheren nördlichen Breite etwas früher, als in Lübeck.

Für den Rückweg wählen wir den kleinen Trampelpfad, der am Ufer des Ferring-Sees entlang fast bis nach Vejlby geht. An einigen Stellen des kaum benutzten Weges müssen wir durch nassen Morast stapfen, denn der See ist von sumpfigem Gelände umgeben, das sich bis zu den Dünen zieht - die einzige Barriere hin zum Meer. Wie viele Seen jenseits der Dünen, war auch der Ferring-See irgendwann mal ein Teil der See gewesen. Nun trennen ihn davon nur wenige Meter Dünen und Strand, der zudem mit Buhnen befestigt ist, damit sich der Blanke Hans nicht eines Tages seinen früheren Besitz zurückholt. Überhaupt ist die gesamte Küste mit Befestigungen versehen, denn das Meer nagt mit einer immensen Gewalt an den Küsten. Diese bestehen nur aus Sand und haben der See wenig entgegenzusetzen.


Blick über den Ferring-See


Buhne

Gleichmut


Wrackteil
Zwei Tage später hat sich der Himmel mit einer dunklen undefinierbaren Wolkenmasse ausgefüllt, aus der dann und wann ein paar Regentropfen herunterfallen. Das Meer hat viele seiner Farben verloren und dümpelt so grau wie lustlos in seinem Sandbett herum. Obwohl kaum Wind weht, reicht allein die Dünung aus, um zuweilen krachend sich brechende Wellen zu erzeugen. Doch davon abgesehen, dominiert gepflegte Ereignislosigkeit das Bild. Gleichmütige Ödnis liegt in der Luft. Natürlich hat sich auch die Fernsicht auf ein angemessenes Maß reduziert. Nun wandert man wie unter einer farblosen Glocke. Selbst die Zeit will nicht vergehen, wenn man ohne ein rechtes Ziel den Strand entlang läuft, die Augen dabei zumeist auf den Boden gerichtet, um vielleicht ein Stückchen Bernstein zu entdecken.

Aber so angestrengt man auch späht, es will sich einfach kein Bernstein entdecken lassen. Dabei sind wir sicher schon über Kilos von versteinertem Urzeitharz hinübergetrampelt. Doch wenn man nicht weiß, wie sich dieses von den Abermillionen anderer Kieselsteinchen unterscheiden lässt, kann man die Suche auch gleich sein lassen. Andere Wanderer scheinen da schon besser informiert zu sein. Einige von ihnen bleiben häufig stehen, bücken sich und klauben immer wieder Steinchen aus dem Sand. Wir dagegen finden vielmehr alte Handschuhe, Seilreste und anderes über Bord gegangene Schiffszubehör. Ist ja auch was...


Armer Fisch

Strandwanderungen sind in dieser Stimmung eine sehr meditative Angelegenheit. Dabei ist die graue Eintönigkeit nur auf den ersten Blick langweilig. Man muss sich auf sie einlassen können und wird reich belohnt. Dann scheint sie zuweilen so fremdartig, dass das sich stets neue Perspektiven, Stimmungen und Kulissen auftun. Und wenn die Sonne nicht zu sehen ist, bemerkt man ihren flachen Lichteinfall nur an der permanenten Abendstimmung, in der es nie so richtig Tag werden will.

Schon gegen zwei Uhr Nachmittags neigt sich der Tag ganz langsam dem Abend entgegen. Dann legt sich eine bleierne Düsternis über das Meer, den Strand und die kleinen Orte. Die ohnehin schon schwachen Farben verblassen nun vollends. Doch bis es wirklich dunkel ist, vergeht noch eine Weile. So schwach das Tageslicht auch ist, hartnäckig widersteht es der klebrigen Dämmerung. Was bleibt, sind Variationen eines magischen Zwielichts, das sanft über einer herben Nordseelandschaft hängt.



Sturm: Graupelschauer im Anmarsch

Übermut


Regenbogen über der Sturmsee
Natürlich kann die See auch anders. Keiner konnte wissen, dass die öde Gleichmut nur die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm war. Schon die Nacht war unruhig. Rumpelnd, bebend und pfeifend zerrte der Sturm an dem kleinen Häuschen, das nur eine Düne weit von den maritimen Gewalten im Sand kauert. Und das, obwohl es im Windschatten liegt. Nun ist der Tag angebrochen und Neugier kommt auf, was sich wohl hinter der Düne am Strand abspielt.

Bereits dorthin zu kommen, erweist sich als schwieriges Unterfangen. Auf halber Dünenhöhe bläst mir der Sturm den Sand mit solcher Kraft ins Gesicht, dass ich nur rückwärts gehen kann. Am Strand selbst toben die Elemente. Wellen überschlagen sich, Gischtschaum wird verschwenderisch verteilt und der feine Sand treibt in fahlen Strömungslinien in Richtung Land. Über allem türmen sich bedrohliche Wolken in den Himmel. Einige von ihnen sind pechschwarz und gießen Graupelschauer herab, die auf der Haut schmerzen. Ein Doppelregenbogen hat sich gebildet, weil im Wolkenchaos irgendwo ein Loch ist, durch das ein Hauch von Sonne scheinen kann. Seine Lebenszeit ist sehr kurz, denn nur allzu schnell hat die nächste schwarze Wolkenfront die Küste erreicht und beglückt den Wanderer mit einem eiskalten Guss aus Regen und Hagel.

Ich versuche, die Szene zu fotografieren und zu filmen. Die Kameraperspektive fällt einseitig aus, denn ich kann das empfindliche Gerät nicht direkt in den Sturm halten, sondern muss Regen, Hagel und Sand mit meinem Rücken aufhalten. Dank des fortgeschrittenen Windchill-Faktors verlasse ich diesen unwirtlichen Ort recht schnell und nehme Zuflucht im warmen Häuschen. Am Abend lasse ich es mir nicht nehmen, trotz nach dem Saunagang nur mit Badehose bekleidet ans Meer zu gehen. Der vom Wind getriebene Sand scheint dabei die Haut abzuschmirgeln, fördert aber nahe der Schmerzgrenze nur die Durchblutung. Intensiver kann man den Sturm kaum mehr erleben.

Nach zwei Tagen schließlich hat sich der Sturm verzogen. Doch die Welt des Strandes bei Vejlby hat sich verändert. Es ist nicht nur, dass die Buhnen fast im Sand versunken zu sein scheinen. Vielmehr sieht es so aus, als sei das ganze Meer runde 50 Meter in Richtung Land gerutscht. Unabhängig von den Gezeiten verläuft die Wasserlinie deutlich näher an den Dünen, als vorher. Optische Täuschung oder Erinnerungsfehler? Keine Ahnung. Auf jeden Fall bleibt das Erleben eines Meeres im Ausnahmezustand.


Strömungslinien im Sand










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