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Berliner Streifzüge 2, Oktober 2007

Spa(t)ziergänge drch die Hauptstadt:

Abschnitt 1: Marzahn, Hellersdorf, Neu-Hohenschönhausen, Friedrichshain
Abschnitt 2: Tiergarten, Kreuzberg
Abschnitt 3: Mitte, Neukölln

Weitere Fotos am Ende der Seite

Wohnfabriken im Nordosten: Marzahn-Hellersdorf


Grundschule an der Mühle, Marzahn
Es ist Frühherbst in Marzahn. Laub bedeckt Gehwege und Grünanlagen, und zwischen den goldbraunen Kronen der Bäume scheit eine niedrige Sonne auf die weißen Fassaden der Plattenbauten. Im Hain der Freunschaft ergibt das Wechselspiel von Sonne, Wolken, Parkanlage und Wohnblocks eine beinahe unwirkliche Kulisse.

Im großzügigen Park zwischen den Bauten stehen vereinzelte Skulpturen, die ein wenig über das allgegenwärtige Grau hinwegtäuschen. In der Grundschule an der Mühle fragen wir uns, ob die heruntergekommenen Gebäude noch benutzt werden. Graffiti und Zerfall beherrschen das Terrain; erst der Blick hinter die Glasscheiben lässt vermuten, dass der Schulbetrieb noch in vollem Gange ist. Mit ihrem Namen erinnert die Schule an die nahe Bockwindmühle, die im alten Ortskern von Marzahn steht. Im Jahre 1805 wurde die erste Mühle errichtet, ein paar Jahrzehnte später war sie wieder verschwunden. Erst Mitte der 80er Jahre erwuchsen erste Pläne, das ehemalige Dorf optisch an sein Ursprungsbild heranzuführen. Man kaufte die kaputte Mühle von Luckow und wollte sie nach Marzahn verpflanzen. Die Luckower hingen jedoch zu sehr an ihrer alten Mühle, so dass die Aktion an ihrem Widerstand scheiterte. Erst 1994 errichtete man schließlich auf einem kleinen Hügel die aktuelle Mühle und engagierte eigens einen Müller, um sie dann und wann auch in Betrieb nehmen zu können.


Wohn- und Einkaufszentrum
Der im Übrigen bewusst unternommene Rekonstruktionsversuch der Alt-Marzahner Dörflichkeit nimmt sich angesichts des Missverhältnisses der gegensätzlichen Baustrukturen beinahe putzig aus. So liegt der alte Ortskern Marzahns wie ein winziges Eiland inmitten erschlagender Plattenbaukomplexe.

Von der Grundschule ist es nicht weit bis zu einem integrierten Wohn- und Geschäftskomplex, in dem Wohnhochhäuser mit umliegen Geschäften und Kneipen eine Einheit bilden. In eines dieser Solitärhochhäuser dürfte ein Vielfaches der Einwohnerzahl des alten Dorfkerns passen, der von hier nur einen Steinwurf entfernt liegt. Von der Videothek über den Supermarkt bis zur Bierstube ist hier alles zu finden - im optimalen Fall braucht man das Areal für viele Jahre nicht zu verlassen. Einige der einsitzenden Rentner haben das sicher auch nicht allzu oft getan.

Marzahn ergibt zusammen mit den angeschlossenen Ortsteilen Biesdorf, Kaulsdorf, Mahlsdorf und Hellersdorf den Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf, der zusammen knappe 250.000 Einwohner beherbergt, davon über 100.000 in Marzahn selbst. Die Wohn- und Schlafstadt am nordöstlichen Rand Berlins ist eine Hochburg der Linkspartei und Wahlkreis des MDB Gregor Gysi.

In den späteren 70er Jahren begann man in Marzahn und den umliegenden Ortsteilen mit dem Bau prestigeträchtiger Wohnanlagen, die in mindestens ebenso prestigeträchtigem Tempo hochgezogen wurden. Dank des Plattenbausystems "WBS 70" (Wohnungsbauserie 70) erreichte man ein kaum zu übertreffendes Tempo und schaffte Wohnraum für Tausende Menschen - allerdings auf Kosten anderer Bauprojekte außerhalb der Metropole. Unverkennbar ist noch heute die überaus autogerechte Stadtplanung. Breite Magistralen durchmessen den Bezirk, allen voran Landsberger- und Märkische Allee sowie die Allee der Kosmonauten. Hie und da gibt es unterirdische Tunnel für die Fußgänger, die es zuweilen schwer haben, die breiten und verkehrsreichen Autostraßen zu überqueren.


Im Hain der Freundschaft

Hellersdorf


Hellersdorf
Entlang der fast endlosen Ausfallstraße Landsberger Allee kommen wir in das Ortsgebiet von Hellersdorf. Hier reihen sich niedrigere Plattenbauten in einmütiger Regelmäßigkeit aneinander und bilden in sich abgeschlossene Siedlungsstrukturen. Hinter den Gebäuden liegen oft hofähnliche Zonen, die mit Begrünungen lebensfreundlicher gestaltet wurden. Hie und da fallen Hand-Wasserpumpen auf, die so gar nicht in die verstädterte Umgebung passen wollen. An diesen Orten herrscht zuweilen eine eigentümliche Ruhe, hervorgerufen durch die abschirmende Wirkung der Häuserzeilen.

Auch Hellersdorf hat einen alten Ortskern, der ähnlich mikrig im Vergleich zur umgebenden neuen Bausubstanz wirkt, wie der von Marzahn. Nur gibt es hier nicht einmal eine Mühle, sondern lediglich Landarbeiterhäuser aus den Anfangstagen des letzten Jahrhunderts. Der Rest ist Platte - wohin das Auge blickt. Wir machen uns gar nicht erst die Mühe, die elenden Überreste einstmals dörflicher Strukturen zu entdecken. Stattdessen kurven wir fast wahllos durch die endlosen Wohnblocksiedlungen und geben Hellersdorf die Chance, auf uns wirken zu können. Und das tut es, ganz ohne Zweifel.

Neu-Hohenschönhausen


Hohenschönhausen 1
Architektonisches Interesse und die Faszination für das Graue treiben uns weiter in den Plattenbezirk Neu-Hohenschönhausen. Auch dieser Berliner Ortsteil geht zurück auf ein altes Dorf, das im 19. Jahrhundert durch die Straßenbahn mit dem großen Berlin verbunden wurde und seitdem sukzessive von diesem aufgesogen und schließlich 1920 eingemeindet wurde. Heute zählen die hier ansässigen Großsiedlungen im Stadtbezirk Lichtenberg weit über 100.000 Einwohner, sind also eine Großstadt für sich.

Wir stellen das Auto in einer Seitenstraße ab und machen uns zu Fuß auf in Richtung Zingster Straße. Im herbstlichen Licht wirken die Häuserschluchten düster bis grau, die seit Mitte der 80er Jahre das Gesicht Neu-Hohenschönausens prägen. Erich Honecker höchstpersönlich legte den Grundstein für das repräsentative Neubauprojekt, das 1988 fertiggestellt wurde. Die Zingster Straße bildet die Hauptachse des Viertels und hält zudem noch einige kommerzielle und kulturelle Einrichtungen bereit. Diese befinden sich in einer Ladenzeile, die das Erdgeschoss eines nicht enden wollenden Gebäudekomplexes bildet. Hier findet man ein paar traurige Läden, traurige Kneipen und ein paar Bänke, auf denen sich Jugendliche die grauen Fassaden und ihre düsteren Zukunftsaussichten bunt saufen.


Hohenschönhausen, an der Zingster Straße
Ein Fitnessstudio nur für Frauen feiert mit lila Ballons Eröffnung, während im düsteren Internetcafé nebenan müde Gestalten unter billiger Schlagermusik vor den Rechnern kauern und vertieft in knallige Daddeleien einen weiteren Tag an sich vorbeiziehen lassen. Wir gehen die Ladenzeile entlang und erreichen das Linden-Center, unbestrittenes Stadtteilzentrum Neu-Hohenschönhausens. Auf dem Vorplatz fallen drei sonderbar gekleidete Männer auf. Sie tragen Polizeiuniformen, gigantische Schildmützen und Instrumente. Der Mann mit der Riesenmütze spielt Trompete und singt in ein tragbares Megafon. Die anderen verlustieren sich jeweils an Tuba und Banjo. Es ist die Jazzpolizei (www.jazzpolizei.com), die vom Frauenfitnessstudio engagiert wurde und den tristen Platz vor dem Einkaufszentrum mit Farbe und Dixiemusik füllt. Eine wahre Bereicherung.

Im Inneren des Linden-Centers erwartet uns das übliche Einerlei standardisierter Einkaufszentren. Allerdings kann man in der glitzernden Warenwelt für eine Weile das Grau Neu-Hohenschönhausens vergessen, so man denn als Kunde solvent genug ist, um vom schillernden Warenangebot nicht an die eigene Mittellosigkeit erinnert zu werden. Ansonsten bleiben die Bänke vor dem Einkaufstempel und der gekachelte Kiosk um die Ecke für die Gertränkeversorgung.



Ladenzeile Zingster Straße

Friedrichshain


Friedrichshain, Landsberger Allee
Verlässt man die Innenstadt über den Alexanderplatz nach Osten, gelangt man über die Mollstraße auf die Landsberger Allee. Diese endlose Straße verbindet das Zentrum mit den Außenbezirken und führt zunächst nach Friedrichshain, bevor sie irgendwann die Plattenbauten von Marzahn-Hellersdorf und noch viel später die Stadtgrenze erreicht. Alternativ dazu bildet die Karl-Marx-Allee ein fast noch besseres Entree nach Friedrichshain, da sich hier sozialistische Prachtbauweise par excellence bestaunen lässt.

Dabei ist es gar nicht so lange her, dass Friedrichshain als Synoym für schreckliche Wohnverhältnisse und hohe Kriminalität galt. Das war zur Kaiserzeit, als die aufkeimende Industrialisierung verarmte Wanderarbeiter vor allem aus Ostpreußen ins Viertel zog. So entstanden in unmittelbarer Nähe zum Zentrum frühe soziale Brennpunkte, die sich noch heute in den Besonderheiten des Friedrichshainer Kiezes erahnen lassen.

Die hohe Konzentration von Arbeitern und Ausgebeuteten führte schließlich zur Etablierung kommunistischer Ideen - Friedrichshain wurde zur roten Hochburg. Zur Zeit des Nationalsozialismus kam es hier überdurchschnittlich häufig zu blutigen Auseinandersetzungen mit SA-Schlägertrupps. Als bei einer dieser Nazi-Provokationen der SA-Schläger Horst Wessel getötet wurde, nutze die SA das zur Verschärfung ihres Terrors. Auch wurde das Viertel in Horst-Wessel-Stadt umbenannt, woran sich viele ältere Einheimische nur ungern erinnern dürften.


Blick vom Strausberger Platz in die Karl-Marx-Allee
Weite Bereiche Friedrichshains wurden im Zweiten Weltkrieg zu Schutt und Asche gebombt. Insbesondere das Gebiet um die frühere Große Frankfurter Straße und Frankfurter Allee war besonders betroffen. In der DDR nutze man die entstandenen Freiflächen zur Errichtung einer breiten Prachtstraße mit der angemessenen Bebauung im stalinistischen Zuckerbäckerstil. Passend dazu benannte man die Straße dann auch Stalinallee um, jedenfalls bis 1953, als der Namensgeber in Ungnade fiel und man sie in Karl-Marx-Allee umtaufte. Zwischen 1952 und 1958 schuf man hier ein Paradebeispiel für das "Symbol des Lebens und des Aufbauwillens der deutschen Nation". Zehntausende Freiwillige verfrachteten die Schuttmassen zum Volkspark Friedrichshain, der seit dem eine hügelige Topographie besitzt. Dass ausgerechnet von Arbeitern dieser Baustellen der Volksaufstand vom 17 Juni 1953 ausging, dürfte das Image des DDR-Vorzeigeprojekts für seine Planer nachhaltig getrübt haben.

Anschließend begann man mit der Errichtung einer neuen repräsentativen Hauptstadt, die zum einen "das nationale Erbe der Baugeschichte" bewahren und zum anderen die "Planmäßigkeit der sozialistischen Gesellschaftsordnung" architektonisch widerspiegeln sollte. Man einigte sich auf eine Stilmischung aus sowjetischem Neoklassizismus und Berliner Klassizismus - heraus kam der im Volksmund "Zuckerbäckerstil" genannte Mix.


Strausberger Platz
Beide Tore der Allee der Prachtallee, im Westen der Strausberger Platz und im Osten die ehemalige Zollstation Frankfurter Tor, wurden von Architekt Hermann Henselmann besonders sorgsam gestaltet. So markieren zwei gegenüberliegende Turmpaare Anfang und Ende der Zuckerbäckerstraße, die 1990 komplett unter Denkmalschutz gestellt wurde und noch heute ihre Wirkung auf den Betrachter nicht verfehlt. In ihrem jüngsten Abschnitt zwischen Alexanderplatz und Strausberger Platz kamen den Architekten dann wohl doch die heheren Pläne (oder schlicht die Zeit) abhanden und man begnügte sich mit eher durchschnittlichen Beton-Plattenbauten.

Nach der Wende mutierte die Karl-Marx-Allee in beinahe ganzer Länge zum Sanierungsfall. Von den Gebäuden bröckelten nicht nur außen die unzählige Kacheln ab, und auch ganzheitlich gesehen entsprach der Repräsentationsboulevard kaum modernen städtebaulichen Erfordernissen. Heute hat man diese Probleme weitgehend in den Griff bekommen und konnte die Karl-Marx-Allee auch für jüngere Menschen attraktiv machen. Für mich wäre sie Wunsch-Wohngegend Nummer Eins, sollte es mich mal nach Berlin verschlagen.


Berlins größte Bauruine, die Landsberger Arkaden
Von der Karl-Marx-Allee kann man über die Warschauer Straße einen Abstecher auf die Landsberger Allee machen. Hier befinden sich noch eine Reihe interessanter Sehenswürdigkeiten. Gleich am S-Bahnhof Landsberger Allee ragt Berlins größte Bauruine ganze zwölf Etagen in den Himmel.

Der Bau der Landsberger Arkaden wurde 1996 nach aufsehenserregenden Plänen des inzwischen verstorbenen Stararchitekten Albo Rossi begonnen. Geplant als "Pforte nach Lichtenberg" sollten Läden, Cafés, Büros und Wohnungen in einem repräsentativen Bau untergebracht werden. Was folgte, waren zunächst regionalpolitische Querelen rund um das "Mahnmal des Größenwahnsinns" (Karin Lompscher, PDS) sowie ein Wassereinbruch in der Baugrube. Ein wenig später kündigten viele der Mieter ihre Verträge, weil sie sich von neuen Einkaufscentren in der unmittelbaren Umgebung unter Druck gesetzt fühlten. Es explodierten die Kosten, zusätzlich wechselte mehrfach der Eigentümer. Seit dem verschönert der Rohbau die Ecke Landsberger Allee / Storkower Straße. Nach neusten Plänen soll nun ein Hotel daraus werden.


Denkmalgeschütztes Wohnhochhaus am Platz der Vereinten Nationen
Wandert man auf der Landsberger Allee in Richtung Mitte, kommt man schließlich an der fachwerkartigen Stahlkonstruktion des Sport- und Erholungszentrums vorbei. Das Gebäude stand lange Zeit leer und wurde 2002 wegen des hohen Sanierungsbedarfs geschlossen. Nun wurde ein Investor gefunden, der hier eine Eisbahn und ein Wellenbad einrichten möchte.

Ein paar Schritte weiter taucht der Volkspark Friedrichshain auf, der 1840 als Gegenstück zum Tiergarten und zu Ehren Friedrichs des Großen angelegt wurde. So verhalf der Friedrichs-Hain dem Berliner Stadtteil zu seinem Namen. Seine Hügel bestehen heute überwiegend aus den zusammengetragenen Trümmern aus dem Zweiten Weltkrieg.

Abschließend kann man Friedrichshain über den Platz der Vereinten Nationen verlassen. Am ehemaligen Leninplatz und früheren Standort des Landsberger Tors steht eines der höchsten Wohnhochhäuser Ost-Berlins. Das 77 Meter hohe und in Großplattenbauweise errichtete Gebäude steht heute sogar unter Denkmalschutz.

Hinter dem Platz der Vereinten Nationen geht die Landsberger Allee in die Mollstraße über, die den Stadtwanderer wieder zurück die Nähe des Alexanderplatzes bringt. Die breite Mollstraße besteht in ihrem Verlauf erst seit dem Zweiten Weltkrieg und ist zu beiden Seiten von ansehnlichen Plattenbauten gesäumt. Das Hochhaus mit der Hausnummer 1 war früher Sitz der DDR-Nachrichtenagentur ADN.









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