Ostseeradweg Polen, Danzig per Rad (April 2011)

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Ab Heringsdorf bin ich der einzige im Zug. Das polnische Seebad Swinemünde scheint nicht das Ziel der vielen Passagiere in der Usedomer Bäderbahn zu sein. Ein wenig wundere ich mich darüber, schließlich ist Świnouście die größte Stadt auf der Insel und wirklich nicht ohne Reize. Vielleicht liegt es an der Sprachbarriere, denn hinter der Grenze ist alles nur noch auf Polnisch. Ohne schleichenden Übergang, der dem Touristen auch im nahen Ausland die Illusion erlaubt, noch nicht ganz in der Fremde gelandet zu sein.


Abends auf der Strandpromenade von Świnouście
Von Lübeck aus habe ich mich und mein Rad per Bahn in die nordwestlichste Ecke Polens transportiert. Umgestiegen wurde in Pasewalk und Zissow, wobei die spärlich besiedelte Uckermark besonders eindrucksvoll war. "Vorpolen" nennt man dieses flunderflache Land gelegentlich.

Ich möchte dem Ostseeradweg R10 in Richtung Danzig folgen und die alte Hansestadt ausführlich mit dem Rad erkunden. Nicht nur meine Lenbenszeit, auch meine Reisezeit ist begrenzt. Nur eine kurze Woche bleibt mir für diese erste Radreise im Jahr 2011. Und so werde ich den R10 nur bis Ustka (Stolpmünde) genießen und Danzig mit der Bahn ansteuern. Nach Hause geht′s dann per Fähre von Gdynia zurück nach Rostock.

Unaussprechlich


Świnouście
Man kann über Erika Steinbach denken, was man will. Viel Gutes dürfte es ohnehin nicht sein. Doch spätestens bei der Konfrontation mit der polnischen Sprache ist man intuitiv geneigt, einigen ihrer verqueren Argumente Sympathie zu schenken. Denn hörten die Ortschaften vor der Westverschiebung Polens noch auf wohlbekannte deutsche Phoneme, gibt es heute nur noch polnische Zungenbrecher.

Wie etwa Świnouście. Früher hieß das Seebad schlicht Swinemünde. So wie Travemünde oder Warnemünde, wo jeweils ein Fluss ins Meer mündet. Heute lässt sich sein Name schlichtweg nicht mehr aussprechen. Ich habe es während meiner Reise ein paar Mal versucht. Doch oft musste ich mehrmals ansetzen, bis meine polnischen Gegenüber den Startpunkt meiner Tour identifizieren konnten.

Świnouście wird in etwa "Swino-uschije" ausgesprochen, aber wie so oft steckt auch hier der Teufel im Detail - im Detail der Betonung. Und so verwundert es kaum, dass sich mein polnischer Wortschatz auf vier Floskeln beschränkte: Dzień dobry (sprich: dschien dobre; Guten Tag), dziękuję (sprich: dschienkuje; Danke), Do widzenia (sprich; do widschenia; Auf Widersehen) und sogar przepraszam (!) (sprich: schprascham; Entschuldigung. Hilfreich, wenn man sich in vollen Läden oder Zügen an Leuten vorbeidrängen möchte).


Świnouście, Neubaugebiet

Mit etwa 40.000 Einwohnern ist Świnouście durchaus stattlich für polnische Verhältnisse. Für usedomer ohnehin, denn es ist die größte Stadt der Ostseeinsel. Und das, obwohl ein Teil auf der benachbarten Insel Wolin liegt. Zum Glück ist es der hässlichere. Getrennt vom Meeresarm Swine, der Stettiner Haff und Ostsee verbindet. Sehenswert in dem Städtchen ist lediglich die langgezogene Strandpromenade, alles andere muss man nicht gesehen haben..


Świnouście, Strandpromenade
Schnell finde ich heraus, dass es sich in polnischen Privatzimmer-Vermietungen sehr günstig nächtigen lässt. Eigentlich brachte mich die Angestellte des örtlichen Campingplatzes darauf. Angesichts der stattlichen Preise emfiehlt sie mir, einfach ein paar Straßen weiter an Häusern zu klingeln. Schilder mit der Aufschrift "Wolne Pokoje" (Zimmer frei) sollen mir den Weg weisen.

Und so schlafe ich die erste Nacht auf polnischem Boden in einer luxuriösen Privatherberge für umgerechnet 30 Euro. Ich ahne schon, dass ich mein Zelt diesmal nicht brauchen werde.


Die E65 mit Seitenstreifen ist immer noch besser als der R10 mit Sandpfaden...

Polen hat im April noch zu


Eingang zum Nationalpark der Insel Wolin
Die deutsche Ostsee hat das ganze Jahr über Konjunktur. Ob Scharbeutz, TImmendorfer Strand oder Boltenhagen - die touristische Infrastruktur ist das ganze Jahr über vorhanden. Nicht so in Polen. Hier gilt die Devise "An oder Aus" tote Hose oder Mega-Halligalli. Alles geschlossen oder totale Überfüllung. Dazwischen gibt es nichts. Keine Vor- oder Nebensaison, sonder nur Nicht- oder Totaltourismus.

Eine Vorahnung darauf geben die Öffnungszeiten der Campingplätze, die in aller Regel nur einen Ausschnitt vom ersten Juni bis dreißigsten August bedienen. Zum Glück scheint "Wolne Pokoje" das ganze Jahr über zu funktionieren. Dass Restaurants und dergleichen offen sind, steht auf einem ganz anderen Blatt. Und so kann es durchaus passieren, dass man in einem höherrangigen Seebad wie Rewal keinen einzigen offenen Laden vorfindet und beinahe der Hungertod droht.


Da kommt Freude auf: R10 vor Pobierowo
Auf den ersten Metern meide ich den R10. Zu schlecht soll die Qualität sein, daher nehme dankend den Seitenstreifen der E65 an. Międzyzdroje (Misdroy) macht mit seiner kleinen Fußgängerzone einen netten Eindruck. Passend dazu kommt die Sonne hervor. Auf dem R10 geht es nun durch den Woliński Nationalpark, in dem es schöne Steilküste geben soll, wenn man sie denn besucht. Ich bringe lieber den schottrigen Waldweg hinter mich und stoppe nicht einmal an den Wisentgehegen. Hätte eh keinen Sinn gemacht, denn die haben geschlossen. Vorsaison eben.

Weiter gehts durch kleine Weiler und über die typischen preußischen Alleen. Vor Pobierowo heißt es dann wieder Dreck fressen, wenn der R10 über miese Sandpfade durch einen Wald führt. Hier ist tatsächlich Schieben angesagt. Überhaupt lässt die Qualität des polnischen R10 an vielen Stellen zu wünschen übrig. Sand- und Schotterpisten sowie Kolonnenwege gibt es zuhauf. Zur Belohnung für die Strapazen bleibt man weitgehend vom lästigen Autoverkehr verschont. Ein akzeptabler Handel.


Rewal
Am Nachmittag erreiche ich Rewal (Rewahl), wo man bereits die Gehwege hochgeklappt hat. Das 700 Einwohner zählende Klein-Seebad wirkt wie ausgestorben. Kein Restaurant hat geöffnet, nicht einmal einen elenden Schnellimbiss gibt es. Über die verwaiste Strandpromenade bläst ein müder Wind in die Geisterstadt. Zum Glück befindet sich neben meiner Herberge gleich ein Tante-Emma-Laden (heißt auf polnisch wohl "sklep ciotka Natalia"), wo ich ein Not-Abendessen zusammenstellen kann: Kartoffelchips, Kekse, Schokolade und Bier.


Rewal

Seebäder an der Perlenkette


In Trzebiatów
Zwischen Pagorzelica und Trzebiatów waren selbst die polnischen Radwegplaner mit ihrem Latein am Ende. Offensichtlich ließ sich kein noch so wüster Trampelpfad durch die Äcker schlagen. So muss ich also rauf auf die Hauptstraße, im Fachjargon "unvermeidbare Streckenergänzung" genannt. Jetzt im April ist das bei spärlichem Verkehr kein Problem. In der Hauptsaison muss es aber die Hölle sein, wenn halb Polen zum Urlaub an die Ostsee reist. Wäre Polen China, wäre die Erdrotation gefährdet.

Trzebiatów (Treptow an der Rega) erkennt man aus der Ferne zunächst an der wuchtigen Marienkirche. Sie überragt die bescheidenen Wohnblocks des Ortes um ein Vielfaches. Lange bleibt sie im Blick, noch vom fünf Kilometer entfernten Gorysław kann man sie erkennen.

Zwischen Roby und Mrzezyno zeigt der R10 wieder sein hässliches Gesicht. Beide Käffer verbindet ein nerviger Kolonnenweg und sorgt für reichliches Rütteln. Stimmung und Wegesqualität steigen aber schnell wieder an. Kurz vor Kołobrzeg (Kolberg) sogar besonders stark, denn hier hat man erst kürzlich einen geradezu luxuriösen Radweg fertiggestellt.


Kolonnenweg zwischen Roby und Mrzezyno
Kommt man wie ich aus der polnischen Provinz geradelt, wirkt das knapp 50.000 Einwohner große Kołobrzeg geradezu großstädtisch. Eine Schönheit ist die Stadt nicht gerade. Nach ihrer Totalzerstörung im 2. Weltkrieg wurde sie im funktionalen Stil des Sowjetsozialismus wiederaufgebaut und kommt seit dem ein wenig spröde daher. Trotzdem ist Kołobrzeg der größte Kurort der Region und bringt während der Saison locker das Doppelte seiner Einwohnerzahl in Hotels und Kurbetrieben unter.

An Kur und Erholung ist für mich Radtouristen dagegen nicht zu denken. Ausgerechnet die zentrumsweisende Hauptstraße ist wegen Bauarbeiten gesperrt, was weite Umwege erforderlich macht. Das ist weniger mein Ding, weshalb ich es kurzerhand den Einheimischen gleichtue und mein Rad über eine parallele Eisenbahnbrücke wuchte. Über die Schienen, versteht sich. Kaum bin ich drüben, kommt auch schon ein Zug. War also doch noch in Betrieb, stelle ich erschrocken fest.


Kołobrzeg
Auch im trubeligen Kołobrzeg herrscht noch Vor- , also Nicht- oder Negativsaison. Die Touristeninformation ist nur ein leerer Verschlag und die benachbarte Pizzeria hat keine Pizzen mehr auf Lager. Was man mir aber erst eine Viertelstunde nach Bestellung offenbart. Zum Ausgleich ist der Weg hinaus aus der Stadt paradiesisch. Ich folge einfach der überfüllten Strandpromenade, die einen separaten Radweg besitzt. Es geht vorbei an klobigen Hotelburgen bis der Radweg schließlich durch küstennahe Salzwiesen führt.

Je weiter Kołobrzeg hinter mir liegt, desto weniger ist los und desto grandioser wird die Landschaft. Ab Podczele wird es auf einem ehemaligen Flugfeld mit spärlicher Wegweisung nochmal kniffelig. Doch ich lande sicher in Ustronie Morskie (Henkenhagen) und finde schnell ein Quartier.


R10 östlich von Kołobrzeg

Immer wieder Gegenwind


Strand von Sarbinowo (Sorenbohm)
Bisher habe ich Glück mit dem Wetter gehabt. Fast ununterbrochen begleitet mich heller Sonnenschein, und Wolken sind rar. Die Temperaturen dümpeln um die 10-Grad-Marke herum, denn die Ostsee ist noch kalt und der Winter nicht lange vorbei. Pech habe ich mit dem Wind. Er bläst hier in der Regel von West nach Ost, nur wird die Regel seit Tagen missachtet. Mit Wucht kommt er mir entgegen, was besonders auf baumlosen Wegen in den weiten Agrarregionen Nordpolens der Fall ist. Doch ich will nicht jammern. Besser als Regen ist die Windbremse auf jeden Fall.

Und so trotze ich dem Luftzug und radele durch das gemütliche Sarbinowo (Sorenbohm) und das geschäftige Mielno (Großmöllen), wo der Jezioro Jamno (Jamund-See) beginnt. Hier geht es über eine schmale Nehrung, die den See vom Meer trennt. In Łazy (Lasse), am anderen Ende des Sees, meldet sich der Hunger. Doch auch hier steckt noch alles im Winterschlaf der Vorsaison. Nicht mal laue Pommes gibt es für meinen knurrenden Magen.


Blick über den Jezioro Jamno
Der benachbarte Jezioro Bukowo (Bokow-See) hat zwar auch eine Nehrung, doch leider ohne Straße oder Radweg. Er muss komplett umfahren werden, was gerade bei starkem Gegenwind und langweiligen Landschaften wenig Freude bereitet. In Dabki (Damkerort) traue ich meinen Augen nicht, weil gleich eine Handvoll Restaurants geöffnet hat. Und das sogar gleichzeitig - zur Vorsaison. Mit einer vegetarischen Pizza und einer Zusatzportion Pommes Frites im Magen vergehen die zehn Kilometer bis Darłowo wie im Flug. Geschlafen wird diesmal im Hotel mit Tanzkneipe, das Rad kommt komplikationslos im gesicherten Keller unter.

Darłowo (Rügenwalde, 16.000 Einwohner) ist ein nettes Städtchen, das den deutschen Tierleichenessern hauptsächlich wegen seiner Wurstfabriken bekannt ist. Nur wissen die wenigsten, dass Rügenwalde in Polen liegt und dort auch keine Wurst mehr hergestellt wird. Auch nicht die Teewurst, die hier erfunden wurde.

Der R10 nach Ustka (Stolpmünde) verläuft anfangs ein wenig umständlich. Ich verzichte auf den überflüssigen Umweg über Jaroslawiec und kürze über Nacmierz ab. In Zaleskie radele ich wagemutig auf der 203 auf Ustka zu. Auch hier ist der Verkehr erträglich, was sich im Sommer rapide ändern dürfte.


Darłowo

Wegen begrenzter Urlaubszeit muss ich die weitere Strecke bis Danzig nun mit dem Zug zurücklegen. Das ist schade, denn der R10 hat sicher noch einiges Interessante zu bieten. Also verfluche ich das Genötigt-Sein zur dümmlichen Erwerbsarbeit und steige (problemlos) samt Rad in den kleinen Zug nach Słupsk. Dort kaufe ich eine Fahrkarte für mich und mein Vehikel nach Danzig. Entgegen aller Erwartungen und Fahrpläne hat dieser Zug in der bösen Alltagswirklichkeit jedoch kein Fahrradabteil. Ich muss mein Rad und Gepäck also irgendwo vor ein Abteilklo quetschen. Polnischen Bahninformationen kann man also nicht unbedingt trauen.

Trotzdem erreiche ich am frühen Nachmittag Danzig und quartiere mich schamlos im Scandic Hotel gegenüber dem Hauptbahnhof ein, also praktisch mitten in der Stadt. Das Rad schläft in einem abgeschlossenem Gepäckraum, und ich in einem angenehmen Zimmer mit Doppelbett und Blick auf das Treiben am Bahnhofsvorplatz. Ein bisschen Luxus kann schließlich nie schaden.


Die Silhouette des Danziger Bahnhofs schimmert durch den Vorhang meines Hotelzimmers

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