Pommern im Spätsommer: Über den polnischen Ostseeradweg R10 von Gdynia nach Heringsdorf (August 2011, ca. 600 km)

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kühl-nasser Start in Gdynia

Die Urlaubsplanung ist mal wieder punktgenau. Ich stehe an Deck der Finnlines-Fähre von Rostock nach Gdynia und lasse mir die Sonne auf den Kopf scheinen. Nichts Ungewöhnliches, könnte man meinen. Doch es ist Mitte August 2011, und damit am Ende eines Sommers, der sich vor allem durch elendes Schietwetter ausgezeichnet hat. Zumindest hier, an der Mecklenburger Ostseeküste.

Genau diese entfernt sich langsam aus meinem Blick. Am Strand von Warnemünde tummeln sich noch ein paar Schwimmer im kühlen Wasser. Ich bewundere sie und leiste mir lieber ein finnisches Bier. Schließlich liegen zweieinhalb Wochen Radreise über den polnischen Ostseeküstenradweg R10 vor mir. Im Frühjahr habe ich ihn von Świnouście bis Ustka beradelt, um dann noch ein paar schöne Tage in Danzig zu verbringen.

Und weil ich ungern halbe Sachen mache, will ich ihn dieses Mal komplett unter die Räder nehmen - von Gdynia bis Świnouście. Von Danzig habe fast alle Ecken gesehen, also lasse ich es aus und mache lieber einen Abstecher über die Halbinsel Hel. Auch habe ich mir vorgenommen, hie und da mal zu verweilen. Man muss ja nicht immer überall vorbei hechten...

Ein nasser Morgen in Gdynia

[Rad-Etappe 1: Gdynia - (Hafen) - Hel - Jastrzębia Góra; 63 km]


Rostock-Warnemünde
Gdiynia sieht morgens immer gleich aus. Zumindest kommt es mir so vor, denn immer wenn ich per Fähre anreise, ist es düster und regnerisch. Selbst dann, wenn ich am Vorabend noch einen prächtigen Sonnenuntergang auf See erleben konnte. Müde rolle ich von Bord und mache mich auf den Weg in die Innenstadt, genauer zur Promenade, wo die Fähren zur Halbinsel Hel ablegen. Um 9.30 geht es los, also sind noch zwei Stunden totzuschlagen.

Doch was tun, morgens in Gdynia? Wo noch alles geschlossen hat und nur ein paar verschlafene Menschen zu ihren Bushaltestellen eilen. Ich drehe eine kleine Runde und lasse mich auf einer der Bänke vor dem Springbrunnen nieder.

Kurz bevor meine Langeweile zur Tristesse umkippt, verdunkelt sich der Himmel noch ein Stückchen mehr. Ein Gewitter zieht auf und setzt sich exakt über der Promenade fest. Es gießt wie aus Kübeln, auf jeden Blitz folgt sofort der Donnerschlag.


Gdynia
Irgendwann kann ich endlich auf das Fährschiff. Drinnen beschlagen vor lauter nasser Leute sofort alle Scheiben, so dass ich nicht einmal hinaus gucken kann. Und so schippere ich frierend und nass der namengebenden Stadt Hel entgegen.

Diese taucht nach einer Stunde wie aus dem Nichts vor uns aus. Der erste Blick in den Himmel zeigt, dass vor allem Gewitter einen begrenzten Umfang haben. Zwar nieselt es noch ein wenig, doch nicht allzuweit hinten am Horizont scheint ein vielversprechendes Blau zwischen den Wolken durch. Die Radreise kann beginnen!


Gdynia, Promenade


Gdynia, Promenade


Ein Gewitter zieht auf über Gdynia

Naturidyll mit Verkehrslärm: die Halbinsel Hel

"Krowi Ogon" nannten sie die Kaschuben, Kuhschwanz also. Ein Blick auf eine Landkarte genügt, um sich vom Wahrheitsgehalt dieses Namens zu überzeugen. Ganz vorn, an ihrem südlichsten Punkt bei der Stadt Hel (Hela), beträgt ihr Durchmesser knapp drei Kilometer. Weiter nördlich wird sie immer dünner, bis sie in der Nähe von Kuznika nur noch laue 200 Meter breit ist. 1992 hätte der Blanke Hans beinahe zwei Teile aus Hel gemacht. Nur aufwändige Aufschüttungsmaßnahmen verhinderten die Separationsbestrebungen seitens der Ostsee.


Schildertafel zur Einstimmung auf den Radweg
Hel ist auf ihrer gesamten Länge geprägt von Dünenlandschaften und zweierlei Meeren. Auf der nördlichen Seite sorgt die Ostsee für rauere Klima- und Wellenverhältnisse. In südlicher Richtung, oft nur wenige hundert Meter entfernt, befindet sich die Putziger Bucht (Zatoka Pucka). Dort herrschen die sanfteren Verhältnisse eines Quasi-Haffs.

Da ist es kein Wunder, dass die Halbinsel ein ausgesprochen beliebtes Ziel für Touristen ist. Vor allem Kite-Surfer zieht es die unterschiedlichen Strände. Profis lassen sich an der rauen Ostseeseite über die Wellen blasen; Anfänger, Amateure und Angsthasen treffen sich an der sanfteren Putziger Bucht.


Kite-Surfer an der Putziger Bucht bei Jastarnia


Vorbildlicher Radweg. Leider nervt auch hier der Lärm der nahen Straße.
Klar, dass in jedem Dorf auf der 35 Kilometer langen Halbinsel sommers der Touristentrubel herrscht. Ein Campingplatz reiht sich an den nächsten, und ansonsten hat der in Polen übliche Budenzauber die Dörfer fest im Griff.

Auch klar, dass all die Menschen irgendwie zu ihren Urlaubsorten kommen wollen. Das tun sie besonders gern mit dem Auto, weshalb die Hauptverbindungsstraße vor Verkehr überquillt. Leider ist die Halbinsel sehr schmal. Und so schallt der Verkehrslärm praktisch an jeden Ort. Überall hat man das Gedröhne der Landstraße in den Ohren, was dem Naturidyll erheblich schadet. Und so wird auch die Halbinsel Hel zu einem weiteren traurigen Beispiel dafür, wie sich der Mensch mit seinem KFZ-Wahn die Lebensqualität zerstört.


Kite-Surfer
Wie dem auch sei, zum Glück wird Hel nicht nur von der lärmigen 216 durchzogen, sondern auch von einem schönen separaten Fahrradweg. Dieser führt auf seinen ersten Kilometern durch einen sehr hügeligen Dünenwald und unterhält mich mit einem rasanten Auf und Ab sowie scharfen Kurven. Die KFZ-Fahrbahn ist nur wenige Meter entfernt, dafür aber fast eben und gut asphaltiert. Ich dagegen muss mich über einen schottrigen Slalomweg quälen - aber immerhin besser, als garkein Radweg.

Ab Jastarnia (Putziger Heisternest) wird die Wegequalität sprunghaft besser. Einzige Konstante bleibt der Verkehrslärm, der mich bis Władysławowo treu begleitet. Hie und da schaue ich mir die Massen an Kite-Sufern an und wundere mich, wie sie es schaffen, dass sich ihre Schnüre nicht verheddern. Aber schon bevor ich Hel hinter mir gelassen habe weiß ich, dass ich hier nie auch nur einen Tag lang bleiben würde. Es sei denn, man sperrt die Halbinsel endlich für den KFZ-Verkehr.


FS am nödlichsten Punkt Polens

Am Polnischen Nordkap

[Rad-Etappe 2: Jastrzębia Góra Ost - Jastrzębia Góra West; 4,6 km]


Sturm
Władisławowo (Großendorf) ist alles andere als hübsch. Gleich zwei dicke Landstraßen treffen sich hier mitsamt ihrer stinkenden Blechfracht. Schließlich fängt das Wochenende an und es ist noch immer Sommersaison. Zwar nicht mehr lange, aber immerhin. Trotzdem zieht es Jahr für Jahr viele Touristen in die Stadt, weil sie so günstig am Fuß der Halbinsel Hel liegt. Dann können sich zu den 10.000 Einwohnern im Ernstfall bis zu 60.000 Touristen gesellen, die auch alle gleichzeitig beherbergt werden können.

Über übles Kopfsteinpflaster geht es bergauf, einen separaten Radweg gibt es außerhalb des Hauptortes nicht mehr. Zu Władisławowo gehört noch eine Handvoll weiterer Gemeinden im Kaschubischen Küstenland. Eine davon hört auf den Namen Jastrzębia Góra (Habichtsberg) und beherbergt den nördlichsten Punkt Polens. In Erinnerung an meine Radreise zum Nordkap möchte ich hier bleiben, auch wenn das Polnische Nordkap rund 23 Breitengrade südlicher liegt, als das europäische in Norwegen. Aber egal, Nordkap ist Nordkap.


Budenzauber in Jastrzębia Góra
Passend zum Wetter, das üblicherweise am skandinavischen Nordkap herrscht, sind tiefschwarze Wolken aufgezogen. Ein Gewitter ist im Anmarsch, und ich frage beim erstbesten Zimmervermieter nach einer Unterkunft. In Polen ist das kein Problem. Auf freie Zimmer wird mit "Wolne Pokoje"-Schildern hingewiesen. Man klingelt, fragt nach und kann meist sogleich einziehen.

Kaum bin ich im Zimmer, bricht ein heftiges Gewitter los. So dauert es bis zum frühen Abend, ehe ich Jastrzębia Góra genauer betrachten kann. Es ist ein gesichtsloser Ort, der im wesentlichen aus einer Aneinanderreihung von Jahrmarktbuden, Verkaufsständen und ein paar Hotels besteht. Ein typisches polnisches Seebad eben. Im Winter dürfte das Kaff wie ausgestorben sein, während jetzt - trotz des eher mauen Wetters - der Bär steppt.


Sonnenuntergang am Strand
Diese Art von Badeorten ist ausschließlich auf die sommerliche Bespaßung tausender Touristen ausgelegt. Viele der Buden stehen auch im außerhalb der Saison an den Straßenrändern, dann sind sie allerdings verrammelt und unterstreichen die triste Winteratmosphäre. Auch Supermärkte gibt es mangels Käufern nicht, man versorgt sich im Sklep (Kleingeschäft) oder fährt nach Władisławowo zu Biedronka.

In der Saison eröffnet zusätzlich eine Reihe von Delikatesy-Läden, in denen es keine Selbstbedienung gibt. Alles muss man sich von Verkäufern anreichen lassen, die hinter Tresen stehen und die Kunden bedienen. Besonders umständlich, wenn man kaum Polnisch spricht und doof auf die Artikel in den Regalen zeigen muss...

Am nächsten Tag breche ich zur kürzesten Etappe meiner Radreisekarriere an: ganze 4,6 Kilometer radele ich vom östlichen zu westlichen Stadtrand. Schuld ist der aufgekommene Sturm, der mit sieben bis neuen Windstärken aus West pustet. Radfahren kaum möglich. Also gebe ich den Elementen nach und suche mir eine neue Unterkunft. So schnell will mich das Polnische Nordkap dann wohl doch nicht fahren lassen...



Sommerradeln nach Łeba

[Rad-Etappe 3: Jastrzębia Góra West - Łeba ; 80 km]


Überfüllte neugotische Kirche von Krockowa
Łeba wird nicht "leba" ausgesprochen, sondern "weba". Das erfahre ich aber erst, nachdem die hübsche Stadt schon viele Kilometer hinter mir liegt. Jetzt aber liegt Łeba noch vor mir und ist das Ziel meiner heutigen Etappe. Der Sturm hat sich gelegt und sogar die Sonne scheint freudig vom Himmel.

Über gut zu beradelnde Landstraßen geht es zunächst in die Provinzhauptstadt Krokowa (Krockow). Hier steht eine sehenswerte neugotische Kirche, in der die Einheimischen gerade ihrem Gott huldigen. Kein Wunder, denn es ist Sonntagvormittag, und den verbringt man im katholischen Polen gerne jenseitsorientiert.

Es wollen so viele Gläubige auf einmal den Worten des Pfarrers lauschen, dass viele keinen Platz finden und vor dem Portal stehen müssen. Damit ihnen nichts entgeht, wird das Gerede nach draußen übertragen. Für die Kollekte bemüht sich der Zeremonienmeister allerdings höchstpersönlich vor die Tür, um auch ja keinen Złoty zu verpassen.

Weiter geht′s durch die polnische Provinz, die sich hier von ihrer hügeligen Seite zeigt. Zwar nichts Ernstes, doch der ein oder andere Anstieg kann sich erstaunlich lang hinziehen. Besonders um Choczewo herum sind die Hügel besonders stark ausgeprägt.


Auch überfüllt: Klosterkriche von Źarnowiec (Zarnowitz)
Łeba präsentiert sich auf den ersten Blick als sehr angenehmes Städtchen. Zwar herrscht auch hier der polentypische Sommertrubel. Aber er fügt sich harmonisch in das Stadtbild ein und wirkt weniger künstlich, als in den bisherigen Strandbädern. Trotzdem bläht sich auch Łeba im Sommer von 4.000 auf bis zu 60.000 Einwohner auf, schafft es aber irgendwie, sein gemütliches Stadtbild dabei einigermaßen zu erhalten.

Die touristische Attraktivität Łebas hat viel mit dem Slowinzischen Nationalpark zu tun, der hier mit riesigen Sanddünengebieten aufwartet. Weil einige davon imposante Höhen erreichen, bleibe ich einen Tag länger zur Besichtigungstour.


Fußgängerzone Łeba


Im Stadthafen

Im Slowinzischen Nationalpark



Wer die riesigen Dünen sehen möchte, muss sich in Łeba nicht anstrengen. In der Ortsmitte warten kleine Elektrozüge, die Touristen für ein paar Złoty ins fünf Kilometer enterfernte Rąbka fahren, wo der Nationalpark beginnt. Hier kann man einen weiteren Elektrozug besteigen, sich ein Fahrrad mieten oder aber weitere fünf Kilometer zu Fuß gehen. Sänften werden aber noch nicht angeboten.

Ich tue letzteres, was nach einem Tag auf dem Fahrradsattel auch mal ganz gut tut. Die Dünen selbst sind recht imposant anzuschauen. Die größte von ihnen (Lacka Góra; Lonske-Düne) bringt es auf immerhin 42 Meter Höhe. Von oben habe ich einen schönen Blick über Ostsee, Nationalpark und hundert weitere Dünenbesteiger. Für den Rückweg schenke ich mir die touristische Infrastruktur und wandere über den Strand zurück nach Łeba. Ganze acht Kilometer muss ich so hinter mich bringen, bevor die ersten Häuser auftauchen. Wieder im Zimmer, gönne ich mir zum Abschluss ein leckeres polnisches Bier.
Denn Polen ist für mich so etwas wie das Gelobte Land des Bieres. Vor allem in Sachen Starkbier hat man es hier zu veritablen Gesöffen gebracht, die nicht nur prima schmecken, sondern ihrem Namen auch alle Ehre machen! Wer braucht da schon die deutsche Braukunst mit ihren schalen Gerstensäften für Warmduscher und Leisehörer...










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