Radrerise um das Stettiner Haff Nr.1 (Juli 2014, 4 Tage, 271 km)


Da möchte man ja fast in Löcknitz bleiben...

Eine schwere Entscheidung: Soll dieser Bericht nun in die Rubrik Deutschland oder Östliches Europa gesteckt werden? Gut, von Deutschland wird der nordöstlichste Teile durchradelt, von Polen dementsprechend der nordwestlichste. Und das ganze vor dem Hintergrund, dass Europa irgendwie immer großflächiger definiert wird. Wenn also der Mittelpunkt des Kontinents bei Vilnius oder gar in der Ostukraine liegen soll, dann ist Polen sicher weit davon entfernt, irgend etwas Osteuropäisches an sich zu haben.

Als Kind des Kalten Krieges pflege ich dagegen eine eher konservative Sichtweise: Zu östeln beginnt es ab der Landesgrenze zu Mecklenburg, denn dort begann früher die DDR und damit der Ostblock. Ab Höhe Ribnitz-Dammgarten ist man dann so richtig drin im Osten, denn dort beginnt Pommern, das in Deutschland noch mit einem zögerlichen "Vor" entschärft wird, in Polen aber immerhin bis hinter Danzig reicht. Und wenn Polen Westeuropa sein soll, dann kann man Belgien getrost in den Dunstkreis Nordamerikas schicken.

Passen würde es ja irgendwie, schaut man sich das undemokratische brüsseler Geheimgeklüngel in Sachen Transatlantischem Handelsabkommen TTIP an. Aber auch der Ostblock ist nicht mehr das was, was er mal war. Ganz im Gegenteil scheinen sich seine ehemaligen Mitgliedsstaaten darum zu reissen, den Kapitalismus besonders mustergültig umsetzen zu wollen.

Wie dem auch sei, ein Gutes hat der Europäische Einigungsprozess auf jeden Fall gebracht, nämlich offene Grenzen zwischen Deutschland und Polen. Denn so lässt es sich gerade in der Grenzregion um das Stettiner Haff hervorragend reisen. Und es lassen sich Unterschiede feststellen, wie die Landschaft um′s Haff auf jeder Seite aussieht. Eine spannende und intensive Tour rund um die zweitgrößte Lagune der Ostsee.

Löcknitz - Ückermünde

[60,06 km / 75,94 km mit Besichtigungen]


Hintersee
Da stehe ich nun vor der Großleinwand. Vor mir ein Stehtisch, darauf fünf Becher voller Bier. Auf der Leinwand läuft das Endspiel der Fußball-WM, das ich mir als erstes und einziges dieser Kommerzverantaltung nun angucken muss. Daher auch die Mengen an Bier - denn das will ertragen werden. Schließlich boykottiere ich diese Veranstaltungen aus politischen Gründen und generellem Desinteresse. Doch wir machen diese Radreise zu zweit, und Gattin Claudia liegt viel am Endspiel.

Und da auf dem Löcknitzer Campingplatz irgendein Verein die Veranstaltungshütte zu einer Art von Public Viewing nutzt, stehe ich nun vor der Leinwand und hoffe inständig, dass die Argentinier gewinnen mögen. Tun sie leider nicht. Am Schluss schwenkt die Kamera auf eine jubelnde Frau Merkel und einen jubelnden Herrn Gauck. Das ist so widerlich, dass selbst das ganze Bier nichts daran ändern kann. Bevor ich ins Zelt krieche frage ich mich, ob diese Leute ihren Fußballaufenthalt aus eigener Tasche bezahlt haben. Anzunehmen ist es eher nicht.


Waldweg zwischen Hintersee und Ludwigshof
Am Morgen darauf erwache ich als Weltmeister. Getan habe ich dafür keinen Deut, aber schließlich haben "Wir" die WM gewonnen, und davon darf ich auch gerne ein Teil sein.

Weniger weltmeisterlich dagegen ist das Wetter. Aus einem grauen Himmel fallen immer wieder Regenschauer. Schnell kaufen wir uns in Löcknitz noch etwas zu essen und radeln auf entspannten Straßen über Rothenklempenow bis Hintersee. Am Ortsausgang dann der erste Schock: Gröbstes Kopfsteinpflaster verspricht eine Rüttelfolter bis Ludwigshof. Aber es gibt noch einen parallel geführten Waldweg, der Schonung für uns unsere Räder verspricht.

Auch in Ludwigshof geht es wieder in den Wald. Und dort sogar entlang des Teufelsgrabens, der vor 200 Jahren den Ahlbecker See in den Neuwarper See und damit das Haff entwässerte. Zweck der Übung war, Siedlungsfläche zu erhalten. Heute ist der Ahlbecker Seegrund ein Naturschutzgebiet. Weil es beim Bau des Kanals zu mehreren Unfällen gekommen war, erhielt er seinen wenig schmeichelhaften Namen.

Viel schmeichelhafter dagegen geht es weiter im Örtchen Rieth. Hier scheint zumindest optisch die Zeit stehen geblieben sein. Dass sie trotzdem weitergelaufen ist, erkennt man am ehesten daran, dass es mit dem Gesundhaus Klatschmohn sogar ein vegetarisches Restaurant gibt. Gerne hätten wir uns dort gestärkt, doch leider war noch geschlossen. Rieth ist übrigens der nördlichste deutsche Grenzort zu Polen.


Ludwigshof


Der Teufelsgraben zwischen Ludwigshof und Rieth


Rieth

Wohl deswegen sind nächsten Kilometer in westlicher Richtung nicht mehr ganz so beschaulich. Eine fast schnurgerade Straße führt uns vorbei am Truppenübungsplatz Jägerbrück, vom Haff ist weit und breit nichts zu sehen. Nur Wald und Warnschilder.

In Luckow machen wir eine kleine Rast und besichtigen die Fachwerkkirche des Dorfes. Sehenswert ist besonders das über 250 Jahre alte Votivschiff. Es wurde als Opfergabe der Kirche gespendet und ist das älteste seiner Art in Ostdeutschland. Ob das Opfer seinem Erbringer Glück gebracht hat, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.


Stadthafen Ückermünde
Die letzten Kilometer bis Ückermünde fallen eher langweilig aus. Zum Ausgleich können wir den ein oder anderen Ausblick auf das Haff erhaschen. Ückermünde empfängt uns erst einmal mit wenig idyllischen Wohnblocks und Plattenbauten. Das Zentrum dagegen macht schon etwas mehr her, begeistert uns aber nicht übermäßig. Gut, der Stadthafen verströmt einen Anflug maritimer Lauschigkeit, und auch am Strand lässt sich gemütlich ein Bier trinken. Aber alles in allem muss man in Ückermünde nicht übermäßig lange bleiben.

Wir tun das auch nicht und beziehen unser Quartier auf dem Campingplatz in Grambin. Dieser liegt direkt am Haff, ist aber leider auch recht trubelig. Abends sitzen wir bis zum Sonnenuntergang am Wasser - immerhin ist die Sonne zu Vorschein gekommen und sorgt für die perfekte Reisestimmung.


Votivschiff in der Fachwerkkirche von Luckow


Der Köhnsche Kanal in Ückermünde


Sonnenuntergang über dem Haff in Grambin

Ückermünde - Świnoujście (Swinemünde)

[64,31 km]


Zwischen Leopoldshagen und Bugewitz
Die ersten Kilometer sind beschwerlich und auch ärgerlich. Ärgerlich vor allem deshalb, weil uns die Radwegweiser auf überflüssige Umwege und miserable Wege schicken. In Leopoldshagen haben wir dann die Faxen dicke und lassen den Oder-Neisse-Radweg links liegen.

Auf der asphaltierten Landstraße kommen wir viel schneller voran, als auf Schlammwegen. Auch hätten wir auf dem Radfernweg nicht den kleinen Lebensmittelladen von Leopoldshagen gesehen. Wie wohltuend, mal keine der ewigen Discounterfillialen mit ihrem Einheitssortiment. Statt dessen ein privat geführter kleiner Einzelhandelsladen, der alles führt, was man so braucht.


Bugewitz
Auf dem Weg nach Bugeritz beginnt dann aber wieder die Rüttelei. Zum Trost ist die "Straße" für Autos noch schlechter, als unser Radweg. Bugewitz ist mit seinen etwa 300 Einwohnern der letzte Posten vor dem sumpfigen Anklamer Stadtbruch. Hier scheint sich eine aktive Kunst- und Kulturszene etabliert zu haben. Und auch sonst wirkt das kleine Dorf ziemlich einladend. Der ideale Ort zum leben.

Gleich hinter dem Ortsausgang dann eine radikale Veränderung der Landschaft. Überall ist Wasser, durchsetzt mit Inseln und düsteren Baumgerippen. Auf einem Damm radeln wir in diese seltsame Wasserwelt hinein, den Anklamer Stadtbruch. Dabei handelt es sich um Deutschlands größtes Moorvernässungsgebiet. Es ist also ein durch menschlichen Einfluss geschädigtes Moor, das durch einen Dammbruch überschwemmt wurde und seitdem im überfluteten Zustand belassen wurde. Totwälder und eine artenreiche Vegetation bieten zahlreichen Vogelarten beste Lebensbedingungen. Von einem Aussichtsturm lässt sich das gesperrte Naturschutzgebiet gut überblicken.

Ab dort ist der Weg nur noch für Fahrräder und Fußgänger offen. Das Holpern nehmen wir für in diesem Naturparadies gerne in Kauf.

Die Karniner Hubbrücke
Erst mit Kamp stoßen wir wieder auf so etwas menschliche Zivilisation im Kleinformat. Überragt wird der winzige Ort vom Gerippe der Karniner Hubbrücke, dem letzten Überrest der 1933 errichteten Eisenbahnbrücke über den Peenestrom zwischen Festland und der Insel Usedom.

In Kamp gibt es auch eine kleine Fußgänger- und Fahrradfähre hinüber nach Karnin auf Usedom. Bis Ende September verkehrt sie regelmäßig, danach nur nach telefonischer Bestellung. Für ein paar Euro können wir uns so den weiten Umweg über Anklam sparen. Und da hier nicht das Stettiner Haff überquert wird, sondern der Peenestrom, wird auch unsere Haff-Umrundung nicht unzulässig verkleinert.

Website der Kamp-Karniner Fähre


Weg in den Anklamer Stadtbruch


Im Anklamer Stadtbruch


Im Anklamer Stadtbruch


Blick auf das Städtchen Usedom
Die Überfahrt ist gemächlich und angenehm. Um so unschöner empfängt uns der kleine Ort Karnin: Weiss der Geier, warum man immer noch fahrradunfreundliches Kopfsteinpflaster verlegt, das jeden Meter zur Rüttelpartie werden lässt. Die Zeiten haben sich seit dem vorletztem Jahrhundert längst geändert, sollte man meinen. Und trotzdem machen wir Bekanntschaft mit grobem Kopfsteinpflaster aus allen Epochen. Altes, das nur als Zumutung für Mensch und Material bezeichnet werden kann, und neues, das nichts weiter als ärgerlich und überflüssig ist.

Auch die weiteren Straßen bis Usedom sind häufig alles andere als angenehm zu befahren. Der namengebende Ort der Insel präsentiert sich als lauschiges Städtchen mit kleinem Ortskern. An historischen Gebäuden fallen vor allem das Anklamer Tor sowie die Stadtkirche St. Marien ins Auge. Weniger augenfällig sind die Wegweiser in Richtung Stolpe, weshalb wir uns zunächst einmal verfahren. Nach einer kurzen Fragerunde sind wir wieder auf dem richtigen Weg.

Und dieser Weg ist mehr als richtig: Erstmal geht es ohne jeglichen Autoverkehr und ähnliche Störeinflüsse durch den Wald bis Stolpe. Und auch die folgenden Ortschaften Dargen, Garz und Kamminke sind über sehr verkehrsarme Straßen und Radwege zu erreichen. Ab und an erhaschen wir sogar einen Blick aufs Haff. Vorbildlich ist auch die Beschilderung des Radwegs.


Grenzübergang Kamminke
Kurz vor Kamminke wird es ein wenig hügelig. Die letzten Meter auf deutschem Boden sollen uns wohl zum Andenken noch etwas in die Beine gehen. Dann der kleine Grenzübergang. Ein Stein auf der Holzbrücke soll sicher verhindern, dass Autofahrer einen Schleichweg für ihren kleinen Grenzverkehr finden. Noch ein kurzes Foto, und schon rollen wir über polnischen Boden. Wird aber auch Zeit.

Świnoujście (Swinemünde) ist mit rund 41.000 Einwohnern die größte Stadt der Insel Usedom und war bis zum Zweiten Weltkrieg Deutschlands drittgrößtes Seebad. Obwohl in der Woiwodschaft Westpommern gelegen, zählt Świnoujście historisch zu Vorpommern. Auch in polnischer Zeit entwickelte sich Swinemünde zu einem bedeutenden Seebad, was an der ellenlangen Promenade und den unzähligen Hotels und Pensionen unschwer abzulesen ist.

Zusammen mit den deutschen Kaiserbädern Ahlbeck, Bansin und Heringsdorf soll Świnoujście sogar die längste Strandpromenade Europas bilden. Allerdings können wir uns schlecht vorstellen, dass man durchgängig von östlichen zum westlichen Ende wandern kann. Nebenbei bemerkt, zählt Świnoujście ebenfalls zu den Kaiserbädern, da Wilhelm II auch dort gerne ins Wasser gestiegen war. Allerdings, und das spricht eindeutig für das polnische Seebad, geht es dort nicht ein Bruchteil so verspießert und angebiedert zu, wie auf deutscher Seite.

Wie dem auch sei, unsere Aufgabe ist es erst einmal, eine Unterkunft zu finden. Kein leichtes Unterfangen mitten in der Hauptsaison. Und so fragen wir uns von Hotel zu Hotel durch, bis wir endlich ein bezahlbares nettes Zimmerchen finden. Danach stürzen wir uns in den unvermeidlichen Trubel der Strandpromenade.


Promenade in Świnoujście

Highslide-Galerie: Auf Bilder klicken und dann Navigationsleiste in der Großansicht nutzen!


Nächster Abschnitt


Alle Inhalte © Frank Spatzier 2014, alle Fotos © Frank Spatzier 2014