Berlin, Posen und Warschau mit Zug und Rad (März 2013)


Hasenparade vor der Alten Brauerei

Poznań-Winogrady: Willkommen in der Trabantenstadt


Polnische Wohnwelten in Winogrady
Aufbruch nach vier Tagen Berlin, Aufbruch nach Polen. Ich quäle mich morgens um sieben aus dem Bett und habe elf frostige Kilometer vor mir. Die Temperatur liegt fast im zweistelligen Minusbereich, während ich von Hotel Georgenhof zum Hauptbahnhof pedaliere. Wenigstens kommt die Sonne raus und entschädigt ein wenig für den Dauerwinter.

Kurze Zeit später rollt der legendäre Berlin-Warszawa-Express in den Bahnhof ein. Das Fahrradabteil befindet sich im letzten Wagon und bietet Platz für zehn Fahrräder, allerdings in Hängeposition. Für ein Reiserad mit Lowridern dürfte es eng werden, was die Funktionalität des Eurocity für den Radtransport einschränkt. Ich stelle mein Rad einfach längs in den Raum, denn außer mir hat niemand ein Fahrrad bei sich. Warum auch, bei diesem Wetter?

Der Zug rollt los und hält noch einmal am Ostbahnhof. Das Berliner Häusermeer zieht an mir vorbei und es scheint, als wolle die Stadt niemals enden. Irgendwann dünnt sie dann aber doch aus, bevor sie ganz den weiten brandenburgischen Wäldern weicht. Erst eine Dreiviertelstunde später hält der Zug noch ein letztes Mal in Deutschland.


Baustelle Posener Hauptbahnhof
Frankfurt an der Oder macht einen spröden Eindruck. Schöner sieht dagegen der namengebende Fluss aus, den der Zug fast bedächtig überquert. Die Oder ist weitgehend naturbelassen und ungeeignet für die Binnenschifffahrt. An ihren Ufern haben sich Feuchtwiesen, Sandbänke und Ausbuchtungen gebildet, die einen schönen Kontrast zum Betongrau Frankfurts abgeben. Der erste Halt in Polen: Rzepin, der ehemalige Grenzbahnhof. Hier passiert nicht viel, keiner steigt ein oder aus. Warum auch? Es geht weiter. Von den nächsten Stopps bleibt mir nur Świebozin im Gedächtnis hängen. Hier hat man die weltgrößte Jesus-Statue aufgestellt. Ganze 52,5 Meter reckt sich der antike Palästinenser in den Himmel des Lebusser Landes. Angeblich stimmt man in Polen trotz bitterer Wohnungsnot gerne dem Bau neuer Kirchen zu. Wirkt immer noch gut, das Opium für′s Volk.


Impression


Nach zweieinhalb Stunden Zugfahrt rollen wir endlich in Posen ein. Der Bahnhof wird komplett modernisiert und ist eine einzige Baustelle. In einem Kiosk kaufe ich einen Stadtplan, denn mein Hotel liegt wenig zentral fast am Rand der Stadt. Auch bei mir herrscht das Spardiktat. Mit seiner Hilfe arbeite ich mich langsam die Straßen entlang und entferne mich dabei immer mehr von der Innenstadt. Nach einigen Kilometern gibt es keine Bürgerhäuser und Stadtvillen mehr, nur noch Plattenbauten - Wohnwelten eines Großteils der Posener Bevölkerung. Nach knapp sieben Kilometern habe ich endlich mein Hotel erreicht. Das System Hotel Poznań liegt am Rande einer Großsiedlung im nördlichen Stadtteil Winogrady. Dieser besteht im Wesentlichen aus solchen Großsiedlungen (polnisch: Osiedle), die oft aus Solitären mit 16 bis 20 Etagen bestehen.

Einen Kilometer vom Hotel entfernt liegt das Einkaufszentrum Poznan Plaza, wo es einen gut sortierten Supermarkt gibt. Dort versorge ich mich mit dem Nötigsten für den Rest des Tages: Wasser, Saft, Bier und Dosengemüse.


Großsiedlung


Die Hörtorgshusen auf polnisch


Winogrady

Wanderungen durch die Stare Miasto (Altstadt)


Ulica F.D. Roosevelta
Posen / Poznań ist mit 550.000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt Polens. Sie ist Verwaltungssitz der Woiwodschaft (Regierungsbezirk) Großpolen (Wielkopolska) und zählt zu den ältesten Städten des Landes. Wie viele polnische Großstädte wurde auch Posen im Dritten Reich von den Nationalsozialisten besetzt, was mit einer systematischen Terrorisierung der polnischen Bevölkerung einherging. Das Fort VII, ein Teil der preußischen Stadtbefestigung, wurde zum Konzentrationslager Posen umfunktioniert. Dort wurden erste Test-Vergasungen mit Kohlenmonoxid an geistig Behinderten durchgeführt. Eine angebliche Herrenrasse als widerwärtiger und verkommener Ausschuss ihrer Spezies.

Posen ähnelt strukturell vielen größeren polnischen oder auch deutschen Städten (so auch Lübeck). Ein Großteil der Bevölkerung wohnt in wenig erbaulichen Großsiedlungen in den Trabantenstädten der Randbezirke. Im äußeren Bereich der Innenstadt finden sich bessere Bürgerhäuser, Gewerbebetriebe und amtlichen Funktionsbauten wie Hochschulen, Museen oder Verwaltungsgebäude. Den Kern bildet die Altstadt (Stare Miasto) mit dem zentralen Altstadtmarkt (Stary Rynek) samt altem Rathaus.



Stary Rynek mit altem Rathaus
Von meinem Hotel aus brauche ich eine gute halbe Stunde, um mit dem Rad in die Innenstadt zu kommen. Entlang der großen Hauptverbindungen gibt es sehr passable Radwege, die im äußeren Bereich der Innenstadt leider verschwinden. Überhaupt ist die Innenstadt nur wenig fahrradfreundlich gestaltet. Außer Radwegen sucht man hier auch Abstellanlagen fast vergeblich.

Die äußere Innenstadt Posens hinterlässt keinen nennenswert positiven Eindruck. Aber auch keinen negativen. Es sieht im Grunde so aus, wie in vielen mitteleuropäischen Städten dieser Größe. Nur vereinzelt stehen hier die eher seltenen Sehenswürdigkeiten, so etwa der Residenzpalast aus wilhelminischer Zeit. Und es wird gebaut. Der Hauptbahnhof ist eine Großbaustelle, die sich über fast einen Kilometer erstreckt und dabei einige wichtige Straßenzüge in Mitleidenschaft zieht. Das neue Gebäude ist schon errichtet, ein walzenhafter Bau in futuristischer Glaswaben-Optik. Daneben steht, fast schon ein wenig beschämt, das alte gedrungene Bahnhofsgebäude und wartet auf seinen Abriss.


Stary Rynek
Kurz darauf komme ich an der alten Brauerei (Stary Browar) vorbei. Der Komplex aus großen Ziegelgebäuden beherbergt heute ein Kultur- und Einkaufszentrum. Und weil Ostern vor der Tür steht, hat man mannshohe Hasenfiguren vor den Eingang und in die Grünanlagen gestellt. Letztere sind allerdings noch dick von Schnee bedeckt, was Frühlingsgefühle garnicht erst in Frage kommen lässt.

Zentraler Platz des modernen Posen ist der Plac Wolnośi, an dessen Ostende man durch eine gläserne Skulptur auf die andere Seite gucken kann. Im Sommer dürfte hier sicher mehr los sein als jetzt, wo ein paar müde Leute über den großzügigen und leicht verschneiten Platz schlendern. Im Westen schließt ein Geschäftshaus den Platz ab, im Osten das Nationalmuseum. Dahinter geht es dann auch schon los mit der Altstadt, der eigentlichen Attraktion Posens. Dort dominieren enge Gässchen mit mal mehr, mal weniger bunt bemalten Häusern das Bild. Hinter jeder Ecke überrascht mich ein anderer Ausblick, ständig gibt es Neues zu entdecken. Nicht alle Häuser sind herausgeputzt. Oft bröckelt es an den Fassaden, oft verblassen die Farben und rosten die Balkone.


Altstadtgasse
Unbestrittenes Zentrum des alten Posen war und ist der Altstadtmarkt (Stary Rynek). Obwohl 60 Prozent seiner Bausubstanz im Zweiten Weltkrieg zerstört worden sind, zählt er dank umfangreicher und detailgetreuer Aufbauarbeiten heute zu den schönsten Plätzen Europas. In seiner Mitte seht das Alte Rathaus, das einmal als schönstes Gebäude nördlich der Alpen bezeichnet wurde. Schön ist es zweifellos, aber ob der eher kleine Bau wirklich diesen Superlativ verdient hat, darf gerne diskutiert werden. Heute beherbergt es das Historische Museum der Stadt. Ebenso hübsch anzusehen ist auch die buntbemalte Häuserzeile linker Hand des Rathauses, in der sich ein schmales Haus an das nächste reiht.

Auf dem Rückweg ins Hotel schaue ich nochmal im Hauptbahnhof vorbei. Ich möchte mein Ticket für die Weiterfahrt nach Warschau kaufen. Kein leichtes Unterfangen, wie ich feststellen muss. Doch ich bin gut vorbereitet: Die wichtigsten polnischen Redewendungen habe ich mir eingeprägt, zusätzlich habe ich gewünschte Abfahrtzeit und Reisezeit auf einen Zettel geschrieben - das alles mit dem Zusatz "z Rowerem" - mit Fahrrad.

Die Fahrkartenschalter am Hauptbahnhof sind so gebaut, dass man mit der Person dahinter nur durch ein Mikrofon in der Glasscheibe reden kann. Um verstanden zu werden, muss man sich zudem ein wenig herunterbeugen. Die Haltung eines Bittstellers. Das klärt schonmal die Positionen. Auf meine freundliche Bitte " Dzień Dobry! Poproszę billet do Warszawa - z rowerem" blökt mir die mürrische Matruschka einen Schwall polnischer Wörter entgegen. Meine Frage, ob sie denn Englisch spreche, verneint sie harsch. Also muss mein Zettel her. Ich schiebe ihn durch den Übergabespalt und halte drei Minuten später glücklich meine Fahrkarte in der Hand. Ich werde noch lernen müssen, dass Servicepersonal im Polen des 21. Jahrhunderts selbst in Großstädten weder freundlich sein, noch Englisch sprechen muss.











Plac Wolnośi



Schneechaos: Auf der letzten Fahrt wird mal wieder geschoben


In der Altstadt
Langsam wird es Zeit. Vier Tage sind für eine Stadt wie Posen mehr als genug. Sicher, es gibt noch ein paar Sehenswürdigkeiten, die ich ausgelassen habe. So etwa den Malta-Stausee (Jezioro Maltański) samt seinem Naherholungsgebiet - aus eher witterungsbedingten Gründen. Auch ein paar historische Friedhöfe habe ich verschmäht, ebenso den Dom und das Schloss. Aber es muss ja noch einiges übrig bleiben, wenn ich wiederkomme.

Nun heißt es erstmal, den Zug nach Warschau erreichen. Die ganze Nacht über hat es geschneit, und noch immer rieselt es weiß aus dem Himmel. Mein Zug fährt kurz vor zwölf ab, im Hotel darf ich bis zum Schluss bleiben. Eine Stunde vor Abfahrt mache ich mich auf den Weg und finde mich mal wieder in Bergen aus Neuschnee wieder. Wo ich gestern noch prima radeln könnte, muss ich heute schieben. Nur auf den Radwegen entlang der Hauptverkehrsstraßen kann ich langsam vor mich hin rollen. Mein Zeitfenster ist ausreichend, pünktlich erreiche ich Poznań Głowny (Hauptbahnhof, sprich: Pohßnan Gufne). Der Zug rollt ebenso pünktlich ein, ich wuchte mein über und über mit schmutzigem Schnee verdrecktes Rad ins Fahrradabteil. Dort schmilzt der Schnee vor sich hin, während ich es mir bequem mache.


Modernes Posen
Bis Warschau gibt es nur zwei Stationen: Kutno und Konin. Kutno sieht vom Zug aus tatsächlich aus, wie eine "sibirische Retortenstadt". So jedenfalls beschreibt es Markus Möller in seinem sehr empfehlenswerten Buch Expedition zu den Polen. Eine Reise im Berlin-Warszawa-Express.

Immer wieder erschüttern heftige Stösse den Wagon. Wahrscheinlich sammelt sich Schnee während der Fahrt, presst sich fest und gerät dann polternd zwischen Schienen und Zug. Trotz des heftigen Schneefalls rast der Berlin-Warszawa-Express mit ungemindertem Tempo durch die großpolnische, dann die masowische Landschaft. Um kurz nach halb vier, also ohne jegliche Verspätung, erreicht er mein Ziel: Warszawa-Centralna.






Ulica Paderweskiego


Stadtpanorama

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Hier noch zwei musikalische untermalte Videoclips von einer Fahrt von Winogrady in Richtung Zentrum




Text und Fotos © Frank Spatzier 2013