Berlin, Posen und Warschau mit Zug und Rad (März 2013)


Plan B muss her: Eiszeit Mitte bis Ende März

Es sollte eine schöne Radreise werden. Der Plan: Mit dem Zug nach Berlin, und von dort weiter mit dem Rad durch das Sternberger Land nach Posen. Dann über Konin nach Warschau, alles in allem etwa 600 Kilometer Radstrecke. Leider kam es anders. Während ich noch anderthalb Wochen vor Abfahrt kurzärmlig in unserem Garten in der ersten Frühlingssonne saß, kam mit meinem Aufbruch nach Berlin der Winter zurück. Am Abreisetag versank der Norden unter rekordverdächtigen Schneemassen. Allein in Lübeck vielen 40 cm Schnee an einem Tag - soviel wie noch nie. Und das war erst der Auftakt. Der Winter hielt sich hartnäckig, mit viel Schnee und sibirischen Temperaturen.

An Radreise war nicht zu denken, zu sehr waren die Straßen voller Schnee und Eis. Vor allem waren die Nebenwege betroffen, über die meine Route führen sollte. Doch ein zweites Mal wollte ich mir nicht vom Winter eine Radreise verderben lassen. Denn bereits Anfang Dezember 2012 machte mir das Wetter einen Strich durch eine geplante Tour entlang der Ostsee nach Stettin.

Ein Plan B musste her. Und der sah so aus: Vier Tage Berlin, vier Tage Posen, vier Tage Warschau. Von Stadt zu Stadt geht es mit dem Zug, das Fahrrad nehme ich mit. Erkundet werden den Städte dann per Rad. Und so fiel zwar die Radreise in den Schnee, heraus kam aber eine interessante Erkundung dreier spannender Städte mit dem Rad.

Information zum verwendeten Fahrrad: Zur Verwendung kam auf dieser Reise mein "altes Stadtrad", das ich für meine täglichen Fahrten in Lübeck benutze. Die Bezeichnung trifft dabei ein wenig daneben, denn früher war es mein Reiserad und hat mich z.B. treu und problemlos zum Nordkap gebracht. Da ich jedoch nicht wusste, ob es immer möglich sein wird, das Rad nachts sicher abzustellen, habe ich mein gutes und teures Reiserad zuhause gelassen. Eine Entscheidung, die ich nicht zuletzt wegen des schädlichen Streusalzes auf den Straßen nicht bereut habe.

Berlin: Friedrichshain und David Bowie


Hinterhofidyll: Junckers Hotel, Grünberger Straße
Lange rollt der Zug durch Berlin. Seit dem Bahnhof Spandau ganz im Westen der Stadt ist schon einige Zeit und Strecke vergangen. Jetzt sind wir endlich im Osten angekommen, am Alexanderplatz möchte ich aussteigen. Ich trage mein bepacktes Rad die Rolltreppe herunter und schiebe es, vorbei an der Weltzeituhr, zur Alexanderstraße. Dann schwinge ich mich auf den Sattel und radele in meine Lieblingsstraße: die Karl-Marx-Allee. Nicht nur ihr Namen verheißt Gutes, auch ihre Architektur ist immer wieder eine Augenweide.

Am Anfang wird die breite Prachtstraße noch von profanen Plattenbauten gesäumt. Doch ab dem Strausberger Platz verwandelt sie sich in eine sozialistische Wohnwelt der Extraklasse. 1952 wurde der Grundstein des ersten Wohnblocks von "Deutschlands erster sozialistischer Straße" gelegt. Fieberhaft wurde gabaut um hier, in unmittelbarer Nähe zum gedrängten West-Berlin, eine Vorzeige-Wohnsiedlung zu errichten. Und so entstanden Wohngebäude im Stile eines sowjetischen Neoklassizismus in Kombination mit Elementen des Berliner Klassizismus, vom Volksmund auch "Zuckerbäckerstil" genannt.


Blick zum Frankfurter Tor
Leider muss ich gleich nach dem Kreisverkehr im Strausberger Platz vom Rad absteigen und schieben. Geh- und Radwege sind vereist, fast hätte es mich hingehauen. Eigentlich sehr schade, denn gerade hier ist der Radweg so großzügig bemessen, wie sonst kaum in einer Großstadt. Ganz vorbildlich haben die sozialistischen Planer der DDR dem nichtmotorisierten Verkehr ähnlich viel Platz gelassen, wie den Autos.

Und so schiebe ich die anderthalb Kilometer bis zum Frankfurter Tor. Hier geht die Karl-Marx-Allee in die Frankfurter Allee über, die symbolisch die Ausfallstraße in Richtung Frankfurt an der Oder bildet. Das Frankfurter Tor ist nicht zu übersehen. Dominiert wird es von den Torbauten zu beiden Seiten der Straße, die von den Architekten Richard Paulick und Hermann Hanselmann entworfen worden sind.

Auf der Rückseite sehen die Prachtbauten weniger prächtig aus


Jetzt geht es nach links in die Warschauer Straße hinein - immer noch schiebend, denn auch hier regiert das Eis. Dann ein kleiner Schlenker nach links in die Grünberger Straße, wo meine Unterkunft ist. Junckers Hotel ist inmitten der engen Fassaden kaum zu entdecken, kaum ein Schild weist auf die Herberge hin. Mit unter 30 Euro ist die Übernachtung für Berliner Verhältnisse recht günstig. Auch über die Lage lässt sich nicht meckern. Da kann mich auch nicht das enge, teppichlose Zimmer mit tristem Hinterhofblick verärgern. Aber trotzdem: weshalb sich das Hotel mit drei Sternen schmücken darf, erschließt sich mir nicht. Das Rad darf im Hinterhof stehen, der nachts abgeschlossen wird. Sogar einen kleinen Fahradständer hat es dort.




Auch hier bröckelt der Putz


Kein schönes Radfahren auf der Frankfurter Allee


Grünberger Straße
In Friedrichshain bilden die Grünberger und Boxhagener Straße den Kern des Kiezes. Hier reihen sich Imbissbuden, kleine Geschäfte und Nachtis aneinander. Nachtis, das sind kleine Läden, die ihre Kundschaft über Nacht mit allem Nötigen versorgen. Und was braucht der stressgeplagte Berliner nachts besonders dringend? Bier. Logisch! In den beiden Straßen pulsiert ein eindeutig links-alternatives Flair. Kein Wunder, dass in der Boxhagener Straße eines meiner Lieblingslokale liegt: der Imbiss Vöner-Wagenburger, wo es leckerste vegane Döner gibt.


Frankfurter Allee
Ehrenmal der gefallenen Sowjetsoldaten
Auch ich besuche einen dieser Nachtis und versorge mich mit flüssiger Nachtnahrung. Ich muss dem Motto meiner Reise gerecht werden: David Bowies Berliner Jahre. Dieses Motto kommt nicht von ungefähr, denn kurz vor meinem Aufbruch hat der Brite sein neustes Album The Next Day veröffentlicht. Darauf nimmt er wehmütig Bezug auf seine drei Jahre, die er Ende der 1970er in Berlin verbracht hat. Dabei kann das insgesamt eher langweilige The Next Day den drei Alben Heroes, Low und Lodger nicht annähernd das Wasser reichen.

Letztere wurden allesamt in Berlin aufgenommen und verarbeiten teilweise auch Eindrücke, die Bowie im einmaligen Klima der geteilten Stadt gesammelt hat. Besonders wichtig: Heroes und das düstere Instrumentalstück Neuköln vom gleichnamigen Album Heroes. Kaum andere Tondokumente treffen den Charakter der Stadt so genau, wie diese Lieder. Auf dem Album Low findet sich noch das elektronische Stück Warszawa, das den Endpunkt meiner Reise beschreibt - daher also das "Motto".


Weidenweg
Und wie wird man einem solchen Motto gerecht? Ganz einfach: Warten bis es dunkel wird, IPod mit den Alben Heroes und Low drauf anschalten, Bierdose auf und dann raus in die Stadt. Und wie ich so durch die Frankfurter Allee und ihre Seitenstraßen schlendere, kommt mir ein Gedanke: Bowie kannte in seiner Berliner Zeit ja nur den Westen der Stadt. Wie erst wäre seine Musik ausgefallen, hätte er gesehen, was ich sehe! Erst der Ostteil Berlins hätte seine Lieder perfektioniert und auf die maximal mögliche Höhe künstlerischen Schaffens gebracht. Heute kann er sich ausgiebig Ostberlin angucken, aber wenn ich mir The Next Day so anhöre, dann hat er den Zenit seiner Kreativität lange überschritten. Schade.





Kreuzung Frankfurter Allee / Warschauer Straße


Frankfurter Tor


Blick in Richtung Fernsehturm



Schöner wohnen in Lichtenberg und Marzahn


Frankfurter Allee, Blick Richtung Kreuzung Möllendorfstr.
Um es mal deutlich zu sagen: Abgesehen von Neuköln und Kreuzberg ist das ehemalige Westberlin langweilig, piefig und uninteressant. Nur der Ostteil der Stadt begeistert durch seinen Abwechslungsreichtum, seine Gegensätze und seine unerwarteten Eindrücke. Und so ist es auch diesmal wieder an der Zeit, die weitläufigen Wohngebiete des Ostens zu erkunden. Und da die 3,5 Millionen Berliner nicht alle in lauschigen Einfamilienhäuschen wohnen können, wurden Großsiedlungen angelegt. Diese ähneln sich östlich wie westlich. Und wer gerne auf die ehemals sozialistische Plattenbauweise schimpft, möge an einem verregneten Herbsttag ein paar Stunden lang durch die Gropiusstadt schlendern.

Auch Lichtenberg war mal ein kleines Dorf, das recht zügig wuchs und dann vom großen Berlin geschluckt wurde. Viel erinnert nicht mehr an die alte Zeit, einzig die alte Dorfkirche samt zugehörigem Pfarrhaus steht noch inmitten der verkehrsumtosten Möllendorfstraße. In Lichtenberg befindet sich übrigens auch die Gedenkstätte der Sozialisten, über die ich in Berlin per Rad (2011) berichtet habe.

Ansonsten besticht Lichtenberg durch jede Menge Plattenbauten in allen Formen und Farben. Nach Norden hin geht es in Hohenschönhausen über, östlich schließt Marzahn an - alles bestens beleumundete Stadtteile für Großsiedlungen im Stile des DDR-Plattenbausystems WBS 70. Hier lässt man sich am besten treiben, radelt mal in diese Straße, mal in jene. Irgendwann erreiche ich die Landsberger Allee, eine große Hauptverkehrsader, die Berlin-Mitte mit Marzahn verbindet und als Landsberger Chaussee schließlich aus der Stadt führt - in Richtung Landsberg an der Warthe, dem heutigen Gorzów Wielkopolski.


An der Landsberger Allee
Die Landsberger Allee wird gesäumt von großen Wohnblocks und Einkaufscentern. Irgendwann hinter der Kreuzung Rhinstraße dünnt die Bebauung merklich aus. Es scheint, als liege hier eine Art Niemandsland zwischen Berlin und der Trabantenstadt Marzahn-Hellersdorf. Anschließend geht es auf einer Brücke über die Gleise, und schon bin ich in Marzahn.

Auch Marzahn war mal ein kleines Dörfchen, das nur langsam wuchs und 1920 nach Berlin eingemeindet wurde. 1945 hatte es gerade mal 1000 Einwohner und war der erste Ortsteil der damaligen Reichshauptstadt, der von der Roten Armee eingenommen wurde. Erst 1976 begann man mit der Bebauung im großen Stil, um Wohnraum für die Berliner Bevölkerung zu schaffen.

Im Minutentakt kommen hier die Straßenbahnen an und spucken Menschen aus. Sie haben irgendwo in der Stadt gearbeitet und kehren jetzt zurück in ihre Wohnfabriken in der Trabantenstadt. Mir fällt auf, dass insbesondere die Frauen einem recht eigentümlichen Schönheitsideal frönen: rotgefärbte Kurzhaarfrisuren mit asymmetrischem Schnitt. Es grenzt an Körperverletzung, was die Frisöre den armen Menschen antun...








Mal raus nach Köpenick


Der verschneite Treptower Park
Ich muss umziehen in Berlin. Weil ich die Zimmerzelle in Juckers Hotel nur zwei Übernachtungen lang buchen konnte, quartiere ich mich für weitere zwei Nächte im Georghof ein. Dieser liegt knapp zwei Kilometer weiter östlich in der Gürtelstraße, ganz in der Nähe des Ring-Centers, das auf der Frankfurter Allee den Beginn Lichtenbergs markiert. Und, was noch viel wichtiger ist, kaum zwei Gehminuten entfernt vom veganen Restaurant Vöner.

Die 31 Euro pro Nacht sind hier bestens investiert - und es wird sich sogar noch herausstellen, dass diese Unterkunft die angenehmste auf der gesamten Reise sein wird. Nur das Fahrrad lässt sich nicht wirklich sicher unterbringen. Der Parkplatz wird zwar über Nacht abgeschlossen, doch über eine offene Tür kann trotzdem jedermann hinein. Und so kette ich mein Rad ein wenig außer Sichtweite im Hinterhof fest. Zumindest von meinem Fenster aus habe ich es im Blick.

Für den heutigen Tag steht Berlin-Köpenick auf den Zettel. In der Altstadt dort soll man Ruhe, Beschaulichkeit und Kleinstadtidylle finden - gewissermaßen ein Kontrastprogramm zu den Ostberliner Plattenbau-Großsiedlungen. Und da es seit meiner Ankunft in Berlin auch nicht mehr geschneit hat, darf ich auf passierbare Radwege hoffen.


Blick in Richtung Köllnische Vorstadt
Vorbei am Ostkreuz geht es über die Brücke "An den Treptowers" über die Spree. Treptow bildet zusammen mit Köpenick den flächenmäßig größten Berliner Bezirk Treptow-Köpenick. Während Köpenick schon im Mittelalter ein wichtiger Handelsplatz war, bestand Treptow bis ins 19. Jahrhundert hinein im Wesentlichen aus dem Grün der Köllnischen Heide. Diese diente den Berlinern als beliebtes Naherholungsgebiet, was sich bis heute im weitläufigen Treptower Park fortsetzt. Letzterer zeigt sich mir heute als weiße Winterlandschaft, an der ich entspannt entlang radele.

Über Köpenicker Landstraße und Schnellerstraße geht es nach Südosten, und die Strecke will einfach kein Ende nehmen. Auch wenn Köpenick nicht ganz am Rande Berlins liegt, befindet es sich schon in veritabler Entfernung zu den inneren Bereichen der Stadt. Irgendwann geht es wieder über die Spree, und endlich bin ich mitten in der Köpenicker Altstadt.

Angenehm ist es hier. Der Autoverkehr hält sich in erträglichen Grenzen, denn die Straßen sind eng. Auch gibt es keine mehrspurigen Verkehrsadern, die den Stadtkern umfließen, wie es etwa bei der Spandauer Altstadt der Fall ist. Hier gehen Dahme und Spree ineinander über. Alles mäandert andeutungsweise durch die Landschaft, so dass die Altstadt praktisch von Wasser umschlossen ist.


Rathaus Köpenick
Dominiert wird die Altstadt vom mächtigen Rathaus, vor dessen Eingangstür eine kleine Figur an den Hauptmann von Köpenick erinnert. Kurz dahinter hebt sich der Turm der Laurentiuskirche in den Himmel. Dazwischen gibt es eine Handvoll mehr oder weniger lauschiger Sträßchen, die im Grunde der Kern einer x-beliebigen deutschen Kleinstadt sein könnten. Interessant wird die Sache eben nur durch die Tatsache, dass sich das alles in der Megacity Berlin befindet. Im Sommer kann man hier bestimmt einen netten Vormittag verbringen, es sich mit einem Eis in der Hand gutgehen und ein wenig die Seele baumeln lassen. Aber jetzt, im nicht enden wollenden Winter, schiebe ich mein Rad durch die Gassen und habe nach einer Viertelstunde den Eindruck, eigentlich alles gesehen zu haben.

Und weil mich langsam fröstelt, mache ich mich wieder auf den Rückweg. Diesmal radele ich nördlich der Spree zurück. Ebenso endlos, wie auf der Hintour, ziehen sich die Straßen An der Wuhlheide, Rummelsburger Straße und Köpenicker Chaussee dahin. Letztere führt durch triste Industriegebiete, bevor ich irgendwann wieder am Ostkreuz und damit fast wieder zurück im Hotel bin.


Köpenick


Köpenick


Köpenick

Highslide-Galerie: Auf Bilder klicken und dann Navigationsleiste in der Großansicht nutzen!


Nächster Abschnitt


Text und Fotos © Frank Spatzier 2013