Litauen: Nida (Nidden), Klaipėda (Memel), Šilutė (Heydekrug), Rusnė (Russ) und das Memeldelta,

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In Litauen ist die Nehrung ein Radlerparadies (Radweg bei Preila)

Nida zum Verlieben


Der Tanzende Wald bei Morskoe (Pillkoppen)
Der russische Wettergott ist traurig. Es kann wohl nur an unserer Ausreise liegen, dass der Himmel immer noch regnerisch-grau ist und ein kühler Wind stürmt. Doch heute geht es nach Litauen, und damit wieder zurück in die Europäische Union mit ihrer hässlich neoliberalen Wirtschaftspolitik und ihrem eklatanten Demokratiedefizit.

Aus- und Einreise gehen zügig vonstatten. Ehe wir uns versehen rollen wir über litauischen Boden. Ein Land übrigens, das neben Polen zu meinen aktuellen Favoriten zählt. Wohl aus diesem Grunde lichtet sich plötzlich die Bewölkung und macht Platz für die Sonne.

Ein wenig später sind wir in Nida, dem alten Nidden. Im Vergleich zur russischen Seite soll es hier geradezu hektisch und trubelig zugehen; ein Hort des baltischen Massentourismus. So zumindest sehen das einige Reiseführer. Sicher ist im Vergleich zur benachbarten Exklave mehr los. Aber trotz aller Beliebtheit und wohl recht passabler Übernachtungszahlen wirkt Nida immer noch wie ein kurisches Fischerdorf. Nur eben, dass es ein paar Restaurants mehr gibt. Größere Hotelbauten sucht man vergebens, dafür wimmelt es von typischen Kurenhäusern aus rot gefärbtem Holz. Es geht also durchaus gemütlich und beschaulich zu in Nida.


Blick von unserem Balkon auf das Haff (Nida)
Nida begeistert von der ersten Sekunde an. Gut, die nordwestlichen Stadtteile sind nicht ganz so lauschig, wie der Ortskern und die Viertel in Haffnähe. Aber da wohnen eh nur übersättigte Touristen in ihren Appartementhäusern. Wir haben einen Logenplatz bezogen, von dem aus wir eine der angenehmsten Seiten Nidas bestaunden können: Stille und Beschaulichkeit.

Und das, obwohl wir direkt an einer Hauptverkehrsachse der Stadt wohnen - dem (Ostseeküsten-) Radweg R10, der Nida entlang der Haffküste in Nord-Süd-Richtung durchquert. Mit den Rädern sind wir in wenigen Minuten im Zentrum, auch zur Parniddener Düne mit ihrer Sonnenuhr ist es nicht weit. Überhaupt sind wir von der hervorragenden Fahrrad-Infrastruktur begeistert. Es gibt viele gut Radwege, und auch der Autoverkehr hält sich in erträglichen Grenzen. Eine schöne Erfahrung nach der KFZ-verseuchten Kaliningrader Oblast.


Typisches Kurenhaus mit Kurenwimpeln
Obwohl es in der unmittelbaren Nachbarschaft liegt, schauen wir es uns nicht an, das Thomas Mann Haus. So gut waren seine Bücher dann auch wieder nicht. Uns zieht es dann schon eher zur Parniddener Düne mit ihrer Sonnenuhr und ihrem naturkundlichen Lehrpfad. Mit den Rädern fahren wir bis an ihren Fuß, dann geht es über eine steile Treppe nach oben. Die Aussicht über die weiten Dünenfelder und das Haff ist grandios. Auch einen Parkplatz gibt es hier, für all die fußlahmen Autler.

Zentraler Anlaufpunkt in Nida ist der Supermarkt im Zentrum, gleich neben der gut ausgestatteten Touristeninfo. Hier gibt es alles, was Magen und Leber begehren. Auch hier ist die Auswahl an Bieren gigantisch und stellt die paar Standardmarken, die durchschnittliche Supermärkte in Deutschland führen, in den Schatten. Vom Vodkaregal ganz zu schweigen...

Und wenn wir nicht gerade auf unseren Rädern unterwegs sind, lassen wir es uns auf unserem Balkon gut gehen.


Sonnenuhr auf der Parniddener Düne


Sonnenuhr auf der Parniddener Düne


Blick von der Parniddener Düne auf Nida

Nach Klaipėda - für fritiertes Brot mit Knoblauch


Unser Stammessen in Klaipėda
Von Nida ins Zentrum von Klaipėda sind es 52 Kilometer. Der gesamte Nehrungsteil kann auf guten Radwegen durchquert werden, und das fast ausschließlich fernab der KFZ-Straße. Bis etwa Juodkrante radelt man auf der Haffseite, danach wird zur Ostsee gewechselt. Ein richtiger Genuss, auch gibt es jede Menge zu sehen, wenn man von Nida nach Klaipėda radelt.

Und es wird auch nicht langweilig, so dass man diese Tour gerne mehrfach absolvieren kann. Wir haben es zweimal gemacht - und das vor allem, um in Klaipėda zu Mittag zu essen. Bei unserem Besuch haben wir ein kleines Restaurant in der Innenstadt gefunden, das fritiertes Brot mit Knoblauch im Sortiment hat - lecker und vegan. Seit dem wurde es unser Anlaufpunkt in der Stadt.


FS am Simon Dach Brunnen

Klaipėda ist mit rund 180.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt Litauens. Sie erstreckt sich auf etwa 14 Kilometern von Norden nach Süden. Im Gegensatz dazu ist sie aber nur wenige Kilometer breit. Klaipėdas restaurierte Altstadt befindet sich fast schon im nördlichen Randgebiet, wo die Nehrung dem Festland am nächsten ist. In der Altstadt lässt es sich sehr gut aushalten. Hier herrscht nur wenig Verkehr, und in den engen Gässchen ist es recht heimelig. Auffällig ist das Fehlen von Kirchtürmen - sie wurden zur Sowjetzeit samt zugehöriger Kirchen geschliffen. Dem Stadtbild tut das keinen Abbruch.

Außerhalb der Altstadt präsentiert sich Kaipėda allerdings etwas rauer, geschäftiger und hässlicher. Wo sich Industriebetriebe und Plattenbauten abwechseln, bleibt wenig Raum für schöne Ecken.

Klaipėda hat eine wechselvolle Geschichte. Einst nördlichste Stadt des Deutschen Reiches und Zentrum des Memellandes, wurde das frühere Memel 1923 samt Memelland von Litauen besetzt. Erst 1939 wurde es für fünf Jahre noch einmal Teil des Deutschen Reiches. Nach Kriegsende und nun Hafenstadt in der Litauischen SSR erfolgte die Umbenennung in Klaipėda - und damit in den ursprünglichen kurischen Namen.


Klaipėda

Arka ("Der Bogen")

Theaterplatz

Auf den Spuren von Herrmann Sudermann: Šilutė (Heydekrug)


Herrmann Sudermann - Denkmal in Šilutė
Auch das alte Heydekrug war eine wichtige Stadt im Memelland. Zwar nicht so groß wie das 50 Kilometer nördlich gelegene Memel, bildete die beschauliche Kleinstadt das Regionalzentrum des Memeldeltas.

Das Memelland befand sich schon lange im Spannungsfeld zwischen der deutschen, pruzzischen und litauischen Kultur, was das Alltagsleben dieser Region maßgeblich prägte. Wer sich für das Leben der einfachen Menschen im Memelland interessiert, kommt um den Schriftsteller Herrmann Sudermann nicht herum. Die Figuren seiner Romane waren oft echten Menschen der damaligen Zeit nachempfunden, wenn nicht sogar authentische Beschreibungen ausgewählter Zeitgenossen.

In seiner Litauischen Geschichte Jons und Erdme beschreibt er das mühselige Leben eines jungen Paares, das sich in der Kolonie Bismarck ein Häuschen baut und eine Familie gründet. Die Kolonie befand sich zu Sudermanns Zeiten ein wenig außerhalb Heydekrugs inmitten ausgedehnter Moore. Von der Kolonie selbst ist nichts mehr zu sehen, aber das Haus des beschriebenen Moorvogtes ist noch bewohnt. Alles kleine Details, die um so interessanter sind, weil Claudia und ich gemeinsam den Sudermanns Roman lesen. So erfahren wir abends die Geschichte und können am nächsten Tag den Orten nachspüren, an denen sie spielt.


Fresko in der evangelischen Kirche


Der ehemalige Marktplatz
Nach Šilute fahren wir nicht mit unseren Rädern, sondern mit dem Boot. Die Fahrt über das Haff erspart uns den lästigen Umweg über Klaipeda, das sich leider nicht umradeln lässt - genauso wenig wie die autobahnähnliche 141 bis etwa 20 Kilometer vor der Stadt. In Nida gibt es einige Anbieter für solche Überfahrten. Unserer ist der Bruder unseres Pensionswirtes. Er bringt uns nicht nur zügig ans litauische Festland, sondern erklärt uns noch so manch Wissenswertes zu Haff und Memeldelta.

Über den Atmata-Strom - den nördlichen Arm des Deltas - verlassen wir das Haff und fahren durch das Festland. Über das Flüsschen Šyŝa erreichen wir schließlich Šilutė, wo wir im Hotel Deims absteigen.

Vorher dürfen wir uns aber noch die evangelische Kirche anschauen und werden dabei von einer christlichen Missionarin begleitet, die uns die Einzelheiten erklärt (war Bestandteil der Stadtbesichtigung der Bootstour). Die gute Frau wusste zwar viel zur Kirche zu erzählen, war aber gar nicht gut auf "Zigeuner" zu sprechen, die vor allem im Winter lieber Sozialleistungen kassierten, als zu arbeiten. Auch waberte stets ein revanchistischer Ton der Marke "das ist ja eigentlich alles deutsch hier" mit. Christentum, Rechtsradikalismus und Faschismus haben schon immer gut zusammen gepasst.


Altes Häuschen am Marktplatz
Michael Molls Radreiseführer "Baltikum per Rad" (Verlag Wolfgang Kettler) meint zu Šilutė, dass es lediglich die evangelische Kirche zu sehen gäbe. Weit gefehlt, die Stadt hat so einiges mehr zu bieten.

Da wäre der ehemalige Marktplatz, der mit einem Ensemble von Originalhäusern einen Eindruck vom früheren Heydekrug vermittelt. An ihm vorbei fließt das Flüsschen Šyŝa (Schieß-Fluss), die alte Brücke darüber ist auch noch erhalten. Ebenso das alte Feuerwehrhaus (noch heute in Betrieb) sowie das Amtsgericht. Insgesamt ist Šilutė ein nettes und beschauliches Kleinstädtchen, das inmitten einer idyllischen Landschaft liegt.




Hauptstraße

Brücke über die Flutwiesen
(ihr Vorgänger kam bei Sudermanns Jons & Erdme vor)

Rusnė und die Memelinsel


Der Atmata-Strom
Das Örtchen Rusnė (Russ) liegt exponiert. Hier teilt sich die Memel (Nemunas) in die beiden Mündungsarme Atmata (Atmath) und Skirvytė (Skirwieth) auf. Letzterer umfließt Rusnė im Südosten und bildet gleichzeitig die Grenze zur Kaliningradska′ja Oblast. Zum Haff hin breitet sich die Memelinsel aus, die von den beiden Memelarmen gebildet wird. Alles Land, das regelmäßig von Überschwemmungen heimgesucht wird.

Mit dem Fahrrad sind es knapp neun Kilometer bis Rusnė. Der Weg dorthin führt vorbei am Moorgebiet Rupkalwen (Žalgiriai-Rupkalviai) in denen früher die Moorkolonie Bismarck lag - dort hatten sich Jons und Erdme aus Sudermanns Roman ein feuchtes Grundstück gekauft und unter Mühen ein Häuschen gebaut. Kurz davor, am Ende der Brücke über die Flutwiesen, steht ein altes Gehöft. Zu Sudermanns Zeiten war es das Haus des Moorvogts, bei dem die beiden Protagonisten vorsprechen mussten.


Straße nach Uostadvaris


Uostadvaris (Kuwertshof)
Das Örtchen Rusnė (Russ) liegt exponiert. Hier teilt sich die Memel (Nemunas) in die beiden Mündungsarme Atmata und Skirvytė auf. Letzterer umfließt Rusnė im Südosten und bildet gleichzeitig die Grenze zur Kaliningradska′ja Oblast. Zum Haff hin breitet sich die Memelinsel aus, die von den beiden Memelarmen gebildet wird. Alles Land, das regelmäßig von Überschwemmungen heimgesucht wird.

In das Rupkalwer Moorgebiet führt außerdem eine Art Naturlehrpfad, dessen Beschilderung wohl einem der letzten Hochwasser zum Opfer gefallen ist. Wir dringen vor bis zur Sudermann-Eiche, müssen für den Rückweg allerdings Regenhose und -jacke anziehen. Die Mücken sind hier so zahlreich und stechlustig, wie im nordschwedischen Muddus-Nationalpark. Es gibt sogar noch erhaltene Reste der Moorkolonie Bismarck. Leider können wir sie wegen der fehlenden Beschilderung nicht finden . und ein langes Suchen vereiteln uns die Mücken.


Weg nach Pakalnė (Pokallna)
Weiter geht es bis zur Memelbrücke nach Rusnė. Links fällt unser Blick auf den Anfang der Skirwieth, auf der gegenüberliegenden Uferseite ist schon Russland. In Rusnė halten wir uns rechts und nehmen die asphaltierte Straße nach Uostadvaris. Die Sonne scheint, es gibt kaum Verkehr (was sollte man auch hier?), links breiten sich weite Wiesen aus und rechts schimmert ab und zu der Atmata durch die Bäume.

In Uostadvaris (Kuwertshof) scheint man am Ende der Welt angekommen zu sein. Das Dorf am Südende des Atmata beherbergt ein altes Schöpfwerk sowie einen Leuchtturm. Ansonsten liegt eine dösige Ruhe über dem Örtchen. Wir radeln weiter in Richtung Pakalnė (Pokallna). Hier ist Straße unbefestigt, lässt sich aber gut beradeln. Es geht durch Felder, dann durch Wiesen und Weideland. Auch in Pokallna ist nicht viel los. Dafür liegt das Dorf idyllisch am gleichnamigen Fluss. Nur ein Bauer ist aktiv und macht mit seinem Traktor reichlich Lärm.


Pakalnė am gleichnamigen Fluss
Zurück in Rusnė machen wir noch eine kleine Ortsbesichtigung. Viel zu sehen gibt es nicht, nur die ehemalige Kirche mit einem einsamen Grab davor fällt besonders ins Auge. Danach radeln wir die Skirwieth ein paar Kilometer entlang und schauen auf die russische Seite - erkennbar an den entsprechenden Grenzpfählen.

Den Tag darauf wollen wir es dann wirklich wissen. Wie gehabt radeln wir in Richtung Rusnė, biegen aber kurz vorher nach links ab. Die Schotterstraße folgt irgendwann der Memel und führt durch die entlegensten Gegenden, die das dicht besiedelte Mitteleuropa zu bieten hat. Im Grenzland zwischen Litauen und Russland dominiert die unberührte Natur, Menschen und ihre zivilisatorischen Errungenschaften sind hier weitgehend unbekannt. Trotzdem ist natürlich auch hier das ein oder andere Auto zu sehen - aber in fast stündlichen Abständen.

So grandios die natürlichen Landschaften hier sind, so sehr freuen sich auch Stechinsekten auf unsere Anwesenheit. Einige von ihnen verfolgen uns auch bei hohem Tempo und versuchen zu stechen, was uns das Naturerlebnis ein wenig verleidet. Ursprünglich wollten wir bis Sovetsk (Tilsit) fahren, drehen aber schon auf halber Strecke um. Der Stechmücken wegen.


Ehemalige Kirche von Russ

Entlang der Memel

Rast an der Memel mit Blick auf das Kaliningrader Gebiet

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Texte © Frank Spatzier 2013, Fotos © Frank Spatzier / Claudia Santamaria-Spatzier 2013