Radreise von Warschau nach Minsk, Abschnitt 3: Grudki (Grenze) - Kamianiuki (Kaмянюki) - Baranovichi (Бapaнaвiчi) - Minsk (Miнск)


Ortsschild

Białowieża - Grudki (Grenze) - Kamianiuki (Kaмянюki)

[Etappe 6: 26,08 km]




Unser erster Weg auf weissrussischem Boden
Gleich nach dem Aufwachen ist uns mulmig. Heute geht es über die Grenze nach Belarus. Eine Grenze, über die wir schon allerlei Schlimmes gehört haben. Nicht direkt über diese Grenze hier im Nationalpark, sondern über Grenzen nach Weissrussland im Allgemeinen. Von schikanöser Behandlung durch unfreundliche Grenzer war immer wieder zu lesen. Von ewig langen Begutachtungsorgien der Pässe, von nicht enden wollenden Formularen und allerhand anderer Unfreundlichkeiten. Und dann erst die Grenzbeamten. Böse sollen sie sein, frustriert und argwöhnisch.

Und dann Weissrussland. Ein Hort der Diktatur, wo an jeder Ecke noch offen der alten Sowjetunion nachgetrauert wird und hundsgemeine Milizionäre jede noch so winzige Verfehlung mit härtesten Strafen ahnden. Ein Land des ewigen Gesterns, wo bittere Armut und Verzweiflung herrschen und nur an hohen Feiertagen gelacht werden darf. Alles geschürt vom allmächtigen Herrn Lukaschenko, dem Erzfeind aller europäischen Demokraten.

So jedenfalls lauten die gängigen Vorurteile, die hierzulande durch die Medien geistern. Wir geistern an diesem regnerischen Morgen durch unser Ferienhaus und packen die Räder.


in der Belovezhskaya Pushcha
Dann machen wir uns auf den Weg zur Grenze. Am Supermarkt zweigen in Richtung Ortsteil Podolany ab, dem letzten Außenposten der demokratischen Zivilisation. Danach führt ein trostloser Weg durch den Wald, der heute irgendwie traurig wirkt. Dann taucht vorne das markante Grenzhäuschen aus Holz auf. Dort endet Europa und beginnt Asien.

Es ist nichts los an der Grenze, wir sind die einzigen Lebensmüden. Wie von Geisterhand erhebt sich der Schlagbaum, dann rollen wir auf die polnische Ausreisestation zu. Alles geht ganz fix, denn natürlich kleben weissrussische Visa in unseren Pässen. Mit schlotternden Knien und voller Ehrfurcht rollen wir die wenigen Meter zum weissrussischen Häuschen. Ob wir das Niemandsland jemals wieder verlassen werden?

Schüchtern schieben wir unsere Räder zum weissrussischen Einreiseschalter. Ein Beamter sitzt hinter dem Glas und nimmt unsere Pässe entgegen. Er scannt die Visa ein und macht darauf aufmerksam, dass wir unsere Migrationskarten ausfüllen müssen. Er hilft uns sogar beim Ausfüllen und ist dabei - was wir überhaupt nicht erwartet haben - sehr freundlich.

Alles dauert nur wenige Minuten, dann dürfen wir weiter. Ein zweiter Grenzer öffnet den Schlagbaum, dann rollen wir über weissrussischen Boden. Die Schwerkraft funktioniert hier noch genauso wie drüben, und auch der Wald sieht aus wie Wald. Obwohl, bei genauem Hinsehen wirkt er tatsächlich ein wenig geheimnisvoller und verwunschener.


Das Magazin (Einkaufsladen) in Kamianiuki
Wir radeln weiter Richtung Kamianiuki (Kaмянюki), wo unser Hotel liegt und befinden uns immer noch im Białowieża-Nationalpark. Doch hier geht es viel ruhiger zu, als auf der polnischen Seite. Hier fahren kaum Autos, denn das ist nur mit Sondergenehmigung erlaubt. Die Wege sind viel schmaler und gleichen eher gut asphaltierten Radwegen.

Dann kommen uns Radler entgegen. Die ersten richtigen Menschen in Weissrussland. Und was tun sie? Sie winken uns freudig zu, wir winken fassungslos zurück.

Wir rollen genau von der richtigen Seite nach Kamianiuki (Kaмянюki) hinein. Während der Hauptteil des Städtchens etwas außerhalb liegt, befinden sich im Wald Restaurants, Hotels und das Wildgehege. Eigentlich gibt es dort nur ein Hotel, nämlich das Kamenyuki Hotel. Dieses besteht allerdings aus vier Häusern, die zum Teil recht weit voneinander entfernt stehen.

Ängstlich betreten wir die Rezeption. Zwar haben wir vorgebucht, können aber kein Wort Russisch sprechen oder verstehen. Mit dem Reisewörterbuch pirsche ich mich an die Rezeptionistin heran und stammele aberwitzige Lautfolgen, die bedeuten sollen, dass wir eine Reservierung besitzen. Sie versteht nichts. Nicht einmal Bahnhof.

Doch man weiss sich zu helfen. Sie telefoniert eine Kollegin herbei, die ein wenig Englisch spricht. Und siehe da, ein wenig später beziehen wir unser äußerst geräumiges Zimmer, das noch im Sowjetstil eingerichtet ist. Wir fühlen uns sofort wohl. Und die Räder werden im Technikraum des Schwimmbades eingeschlossen.


Da geht′s lang!
Anschließend machen wir uns auf den Weg ins Städtchen. In einer Bank wechseln wir 300 Euro in mehrere Millionen weissrussische Rubel. Einen Teil dieser Reichtümer tauschen wir im örtlichen Magazin in Lebensmittel ein. Uns fällt auf, dass das Sortiment hier nicht so reichhaltig wie in Polen, dafür fast noch teurer als dort ist.

Zurück im Hotel machen wir es uns auf unserem Zimmer bequem und erholen uns von all den seelischen Strapazen des Tages. Aber: bisher haben wir noch keine einzige negative Erfahrung gemacht!

Der nächste Tag gehört ganz dem Wald. Und dieser hat auf der weissrussischen Seite viel mehr zu bieten, als auf der polnischen. Es gibt ein Netz an asphaltierten Waldwegen, auf denen sich ganze Themen-Rundrouten zusammenstellen lassen. Autoverkehr herrscht so gut wie keiner, da dafür eine Sondergenehmigung nötig ist. An vielen Stellen stehen Informationstafeln zu wichtigen und interessanten Dingen des Waldes - die meisten davon sogar mit englischem Text.

Ansonsten empfanden wir diesen Teil des Urwaldes als den schönsten. Es macht einfach Spaß, mit dem Rad über die guten Wege zu fahren und die Natur zu genießen. Theoretisch kostet das Radeln im Nationalpark eine Gebühr. Diese ist an einem Kassenhäuschen vor dem Parkeingang abzudrücken. Ihre Höhe ist abhängig von der Größe der geplanten Runde. Zwar haben wir immer brav bezahlt (ist nicht teuer, nur wegen der Sprachprobleme etwas umständlich), kontrolliert wurde aber nie. Das System scheint auf Vertrauensbasis zu funktionieren.

Kilometer Belovezhskaya Pushcha, Tag 2: 35,73


Kwas ist ein idealer Durstlöscher


Vorbildliche Ausschilderung im Park


Die Bärengehege im Wildgehege sind pure Tierquälerei

Kamianiuki (Kaмянюki) - irgendwo bei Kobylovka


[Etappe 7: 98,05 km]




Parkeingang in Bely Lesok (Белы Лясок)
Heute geht es weiter in Richtung Baranovichi. Erreichen werden wir die Großstadt natürlich nicht, also müssen wir später irgendwo im Wald übernachten. Unterkünfte sind in Weissrussland spärlich gestreut und zudem recht teuer. Auf dem platten Land gibt es praktisch keine Hotels. Und wenn, sind sie für Analphabeten wie uns nicht zu identifizieren.

Allerdings stimmt das mit dem Analphabetismus nicht so ganz. Wir haben uns im Laufe der Reise das kyrillische Alphabet eingeprägt und sind so in der Lage, all die Schilder mit den seltsamen Schriftzeichen zu lesen. Verstehen können wir sie deswegen noch lange nicht, aber es hilft ungemein, zum Beispiel bei Ortsangaben. Was man aussprechen kann, ist schon nicht mehr ganz so fremd.

Ein vorerst letztes Mal radeln wir durch den schönen Naturpark und durchqueren ihn auf der Überlandstraße P81 nach Osten. Diese dient hauptsächlich zu Versorgungszwecken und verbindet vor allem die Grenzstation mit dem Rest des Landes (ihr vorgelagert ist ein größeres Kasernengebäude für die Grenztruppen.)

Irgendwie haben wir das eigenartige Gefühl, mit dem Nationalpark einen geschützten Bereich zu verlassen und jetzt in das "wirkliche" Weissrussland einzureisen. Nach etwa 30 Kilometern erreichen wir die Nationalparkgrenze bei Bely Lesok. Ein eisernes Tor versperrt die Fahrbahn. Wir können unsere Räder über einen kleinen Weg hinter dem Wachhäuschen vorbeischieben. Dann geht es hinein in die ungeschminkte weissrussische Realität. Optisch sieht alles so ähnlich aus, wie in Ostpolen.


Noch 28 Km bis Pruschany (ПРужаны)
Dann eine erste Hürde: Die P81 mündet auf eine große, neugebaute Straße, die in unserer Auflage des ADAC-Reiseführers noch nicht eingezeichnet ist. Ratlosigkeit. Nach rechts oder nach links? Hundert Meter hinter uns bemerken Straßenarbeiter unsere Verzweiflung. Sie kommen auf uns zu und wollen helfen. Gestikulierend zeigen wir auf unsere Karte und stammeln den Namen der nächsten größeren Ortschaft auf unserer Route. Man beschreibt uns den Weg, den wir auch ohne Russischkenntnisse gut verstehen. Ein erleichtertes "Spassiba" (Danke), dann radeln wir weiter.

Die Straßenverhältnisse sind super und es herrscht kaum Verkehr. Das Radeln ist ein wahre Freude. In regelmäßigen Abständen gibt es Raststellen mit Tischen und Bänken, und die Bushaltestellen sind mit großen Mülleimern ausgestattet - in Deutschland keine Selbstverständlichkeit.

Pruschany (ПРужаны; 20.000 EW) ist die erste größere Stadt. Dass Pruschany besonders hübsch ist, kann man nicht behaupten. Außerdem treffen sich hier drei Überlandstraßen, was die Verkehrswege ein wenig voller macht. Weil wir nachher wild im Wald campen wollen, fahren wir einen kleinen Supermarkt an, um uns mit Proviant einzudecken. Die Regale im kleinen Laden sind gut gefüllt, vor allem die Auswahl an Bier und Wodka ist reichhaltig. Bezahlen kann man bequem bargeldlos, und zwar ohne Unterschrift und PIN. Die Kassiererin steckt einfach die Karte ins Terminal, zieht sie wieder raus, und das war′s.


Rasthäuschen an der P81 - sogar mit Fahrradhaltern!
Wir müssen nun mit der P85 vorlieb nehmen, die bestens ausgebaut ist. Kein Vergleich zu so mancher deutschen Buckelpiste. Meist gibt es einen kleinen Seitenstreifen, auf dem wir es uns gemütlich machen können. Das tut aber kaum Not, da die Fahrbahn sehr breit und der Verkehr recht überschaubar ist. Ab und zu gibt es sogar eine Radspur neben der Fahrbahn.

Anfangs führt die P85 auf einem Damm schnurstracks durch wohl sumpfige Wälder. Als die Sonne langsam untergeht, hört der Damm auf. Zeit für uns, langsam nach einer Schlafstelle Ausschau zu halten. Auf den ersten Blick keine schwere Aufgabe, da links und rechts nur Wald wuchert. Der Teufel liegt auch hier wie so oft im Detail. Und diese Details treten in Form von Warnschildern auf Schlagbäumen auf, die an jedem kleinen Stichweg in den Wald stehen.

Sie sehen ungemein wichtig aus. Unser Reiseführer sagt uns, dass das fett gedruckte Hauptwort tatsächlich "verboten!" heisst. Doch was ist hier verboten? Feuer machen? Bäume fällen? Pilze sammeln? Ein Zelt aufschlagen und übernachten? Letzteres wohl eher weniger.

Wir haben keine Wahl. Wir warten einen Moment ab, bis kein Auto mehr zu sehen ist. Dann schlagen wir uns in den Wald und schieben die Räder zweihundert Meter weit hinein. Zur Sicherheit verlassen wir den Waldweg und kämpfen uns soweit durchs Gestrüpp, bis uns kein noch so zufälliger Passant mehr sehen kann.

In der Dämmerung bauen wir das Zelt auf und machen es uns gemütlich. Noch ein Schlummerwein und ein Betthupferl, dann schlafen wir friedlich dem nächsten Morgen entgegen.


Da wartet man doch gerne auf den Bus


So gefährlich ist die P85 nun auch wieder nicht


...wie man sieht


WWW: Wildcamp, Wald, Weissrussland

irgendwo bei Kobylovka - Baranawitschy (Бapaнaвiчi)


[Etappe 8: 109,67 km]


Rużany
Mit den ersten Sonnenstrahlen werden wir wach. Schnell bauen wir unser Gerödel ab und kämpfen uns durchs Gestrüpp zum Asphaltband der P85 vor. Es folgt wieder die Routine der Tretmühle: treten, treten, treten. Rużany (Ружаны) heisst die nächste größere Siedlung, durch die wir rollen. Das Städtchen macht einen netten Eindruck, einige Häuserzeilen wirken schon fast gutbürgerlich.

Danach wieder das übliche Kilometerfressen, bis wir mit Slonim (Слонiм) eine erste mittelgroße Stadt erreichen (50.000 EW). Viel bekommen wir vom Verwaltungszentrum des gleichnamigen Rajons (Landkreis) allerdings nicht zu sehen, weil wir auf eine Umgehungsstraße ausweichen, kurz bevor die Stadt beginnt.

Es wird hügelig. Passend dazu geht Claudias Vorderreifen die Puste aus, was eine kleine Reparaturpause nötig macht. Der Verkehr wird hier zunehmend dichter, ist aber noch gut zu ertragen. Auch die LKW-Fahrer überholen in aller Regel mit reichlich Abstand. Weiter geht es auf der P99, wo das erste Mal Minsk ausgeschildert ist.

Zehn Kilometer vor Baranawitschy wird es ungemütlich. Genau an der Stelle, wo die stark befahrene P99 in die noch stärker befahrene P2 einmündet, behindert eine Baustelle den Verkehr. Die LKW stauen sich in langen Schlangen. Wir haben unsere liebe Mühe, eine Lücke zu finden und uns einzufädeln.


Das erste Mal "Minsk" auf dem Schild
Eine Viertelstunde später rollen wir durch die Vororte von Baranawitschy. Mit knapp 170.000 Einwohnern haben wir es hier mit einer echten weissrussischen Großstadt zu tun. Unser Ziel ist das Hotel "Horizont" im Zentrum. Leider haben wir keinen Stadtplan und müssen uns mal wieder intuitiv orientieren. Zum Glück ist unser Orientierungssinn noch nicht durch den Gebrauch von Navis zerstört. Und auch das Bauchgefühl ist ein wichtiger Tippgeber auf einer Radreise. So gelingt es uns tatsächlich, das Hotel Horizont zu finden, ohne uns ein einziges Mal zu verfahren.

Das Hotel ist ein Plattenbau aus sowjetischer Zeit und verströmt auch in seinem Inneren diesen irgendwie sympathischen Charme. An der Rezeption erwarten uns dann wieder die üblichen Sprachprobleme. Ich stammele der Angestellten eine unaussprechliche Lautkombination aus meinem Sprachführer entgegen. Doch die junge Frau ist auf der Höhe der Zeit. Sogar höher als wir, denn sie ist uns technologisch voraus: sie besitzt ein Smartphone mit Übersetzungsprogramm.

Und so spricht sie auf Russisch in das Gerät, das uns die Übersetzung auf Deutsch anzeigt. Ein Wunder der Technik. Aber so klappt die Zimmerbuchung reibungslos. Kurz darauf beziehen wir unser Zimmer im siebten Stock und haben eine wunderbare Aussicht über die Stadt.


Unterwegs


Бapaнaвiчi


Бapaнaвiчi

[Gesamtkilometer: 735,00]

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