Radreise von Warschau nach Minsk, Abschnitt 4: Baranawitschy (Бapaнaвiчi) - Dzyarzhynsk (Дзяpжынcк) - Minsk (Miнск)


Minsk, Platz der Unabhängigkeit (ehem. Leninplatz)

Baranawitschy (Бapaнaвiчi) - nördlich von Stoubcy (Стоубчы)

[Etappe 9: 89,01 km]




Sogar ein Fuß- und Radweg hinter Baranawirtschy
In Baranawitschy herrscht eine angenehme Atmosphäre. Das Zentrum ist überschaubar, obwohl die Stadt mit ihren 170.000 Einwohnern recht groß ist. In einem Buchladen versorgen wir uns mit dringend benötigtem Kartenmaterial, da die ADAC-Autokarte einfach zu schlecht und zudem Teufelszeug ist. Schließlich ist der ADAC als Autler-Club der natürliche Feind aller Radfahrer.

Gut ausgerüstet machen wir uns auf den Weg. Aus Baranawitschy rauszufinden ist nicht besonders schwer. Es geht weiter über die P2, die gleich am Ortsausgang sogar einen begleitenden Rad- und Fußweg besitzt. Dieser verschwindet aber, so schnell er aufgetaucht ist. Es sind etwa sechzig Kilometer bis zur nächsten größeren Stadt namens Stoubcy. Der Verkehr ist moderat und es würde sich sehr entspannt radeln, wäre die Gegend nicht so hügelig.


Zwischen Baranawitschy und Stoubcy wird es hüglig
Im einzigen Reiseführer, den es bislang zu Weissrussland gibt (Nigel Roberts: Belarus; Bradt Travel Guide, 3.Auflage, 2015; 28,18 Euro), heißt es, das Land sei ziemlich flach. Das mag einem vielleicht so erscheinen, wenn man wie Herr Roberts nur mit Auto und Zug unterwegs ist. Wäre er Rad gefahren, hätte er die Topographie sicher anders eingeschätzt. Die P2 jedenfalls gleicht hier einem Wellenband mit teils recht langen und nicht zu unterschätzenden Anstiegen.

Der Himmel hat sich ein wenig zugezogen. Aber es bleibt trocken und relativ warm. Da wir auch heute Abend im Freien schlafen müssen, ist das Wetter schon von gewisser Bedeutung.

Kurz vor Stoubcy überqueren wir die Memel, die hier noch ein kleines Flüsschen ist, das gemütlich durch sumpfige Wiesen mäandert. Stoubcy (Стоубчы) macht keinen besonders einladenden Eindruck. Im ersten Lebensmittelladen versorgen wir uns mit Speisen und Getränken für den Abend. Dabei erwecken wir das Interesse der Kassiererin, der wir mit Händen und Füßen erklären, dass wir wild campen müssen. Wir sind sicher, dass sie uns zum Übernachten zu sich nach Hause einladen wollte, hätten wir sie verstanden.


Die Memel ist in Stoubcy noch ein kleines Flüsschen
Die Dämmerung setzt ein und die Wolken machen Platz für eine goldene Abendsonne. Wir lassen Stoubcy hinter uns und halten Ausschau nach einer geeigneten Stelle für ein Wildcamp. Tief in einem Wald, der mehrere Kilometer von den nächsten Ortschaften entfernt liegt, nisten wir uns ein.

Das Zelt bauen wir gut geschützt zwischen Hecken und Bäumen auf, so dass es erst zu sehen ist, wenn man kurz davor steht. Eine Mühe die Sinn macht, denn wie wir am nächsten Morgen noch sehen werden, sammelt man auch in Weissrussland gerne Pilze tief im Wald.




Bei Краснагоркi





Wildcamp nördlich von Stoubcy (Стоубчы)

Nördlich von Stoubcy (Стоубчы) - Dzyarzhynsk (Дзяpжынcк - Minsk (Miнск)


[Etappe 10: 75,30 km]




Kaiserwetter
Tief im Wald lässt sich bestens schlafen. Am Morgen fallen Sonnenstrahlen durch die Baumkronen und lassen erahnen, dass uns Kaiserwetter verwöhnen wird. Wir bauen das Zelt ab und packen unser Gerödel zusammen, was jedes Mal eine knappe Stunde dauert. Dann schieben wir unsere Räder aus dem Wald heraus und hören dabei Stimmen. Leute sind in unserer Nähe. Wir wundern uns, was sie frühmorgens in den Wald treibt.

Am Straßenrand parken Autos. Wir schwingen uns auf die Räder und fahren los. Wir sehen, wie weitere Autos am Straßenrand geparkt werden. Leute steigen aus, bewaffnet mit Weidenkörbchen. Dann dämmert uns, dass man auch hier Pilze sammelt. Gut, dass wir unser Zelt so tief und versteckt im Wald aufgestellt haben. Nach all unseren Informationen ist wildes Campen nicht verboten und dürfte die Leute auch nicht besonders interessieren. Aber als morgenmuffelige Westler haben wir nicht unbedingt Lust auf Kauderwelsch-Konversationen am Morgen.

Das Wetter zeigt sich von seiner allerbesten Seite. Die Sonne lacht aus einem blauen Himmel. In bester Laune radeln wir durch eine Region, in der sich Wälder mit größeren Agrarflächen abwechseln. Auch hier ist es recht hügelig mit zuweilen kräftezehrenden Anstiegen. Es geht durch kleine, verschlafene Ortschaften mit ihren typischen bunten Holzhäusern.


Рубяжзвiуы
Mit Dzyarzhynsk (Дзяpжынcк, 25.000 EW) radeln wir mal wieder durch eine etwas größere Stadt. Die Stadt wirkt mit modernen Neubausiedlungen und einem gepflegten Zentrum recht angenehm und aufgeräumt. Im Süden verlaufen mit der M1 und der P1 die wichtigsten Verkehrswege des Landes. Letztere soll uns nach Minsk bringen, eine Alternative scheint es nicht zu geben. Uns ist mal wieder etwas mulmig, weil die P1 in unserer Landkarte als Autobahn markiert ist.

Wir müssen ein wenig suchen, um den Zubringer zur P1 nach Minsk zu finden. Dann radeln wir auf dem Seitenstreifen einer mehrspurigen Straße, die uns nach wenigen Kilometern auf die "richtige" P1 entlässt. Und tatsächlich: die P1 ist hier eine sechsspurige Autobahn mit jeder Menge Verkehr. Ob dort auch Radverkehr erlaubt ist, wissen wir nicht.

Mangels einer Alternative radeln wir weiter. Verbotsschilder haben wir keine gesehen, auch keine Autobahnschilder. Schließlich kann eine Landstraße auch sechsspurig sein, ohne als Autobahn zu gelten. Und so fahren wir auf dem breiten Seitenstreifen auf Minsk zu und hoffen, dass uns keine Polizei anhalten und mit drakonischen Bußgeldern belegen möge. In Fanipal (Фнiпаль) machen wir eine erste Frühstücksrast. Vor ein paar Wohnblocks hocken wir uns einfach ins Gras einer Wiese und lassen es uns schmecken. Wieder zurück auf der P1 sehen wir schließlich noch zwei andere Radler, offensichtlich Einheimische. Es scheint also tatsächlich nicht verboten zu sein, was wir hier tun.

Und dann taucht plötzlich Minsk auf. Die Stadt beginnt nicht langsam und schleichend, wie etwa Hamburg oder Berlin. Nein, Minsk beginnt schlagartig. Mit einem Male erscheint am Ende der Ackerflächen eine riesige Häuserwand. Einfach so, fast wie aus dem Nichts.


Dzyarzhynsk (Дзяpжынcк)
Doch es ist für uns nicht ungefährlich, dort hineinzukommen. Wir müssen vom sicheren Seitenstreifen auf eine der mittleren Spuren wechseln, während die Autos noch mit Autobahntempo rasen. Wir überleben das waghalsige Manöver. Hinter der Häuserwand schließlich beginnt dann ein gut ausgebauter Radweg.

Die Randgebiete der Millionenstadt präsentieren sich ausgesprochen modern. Hier steht ein futuristischer Bau neben dem nächsten, alles wirkt luftig und sehr aufgelockert. Minsk ist eine Flächenstadt par excellence. Trotzdem tauchen hie und da noch traditionelle Holzhäuschen auf, was einen schönen Kontrast zu den Stahlbetonriesen ergibt.

Minsk hat knapp zwei Millionen Einwohner und ist damit die größte Stadt Weißrusslands. Uns so dauert es eine Weile, bis wir im Zentrum ankommen. Obwohl wir keinen Stadtplan besitzen, fällt uns die Orientierung nicht schwer. Die Ein- und Ausfallstraßen verlassen das Zentrum sternförmig, so dass wir einfach nur geradeaus radeln müssen.

Nach einer knappen Stunde stehen wir schließlich vor der Kathedrale der heiligen Jungfrau Maria in der Minsker Altstadt. Nun müssen wir nur noch das Hotel "Planeta" finden, das einen Kilometer weiter in östlicher Richtung liegt. Auch das ist kein Problem für uns.

An unserem ersten Abend in Minsk flanieren wir durch die Parkanlage an der Swislatsch. Autos gibt es hier keine, dafür einen schönen Radweg entlang des Flusses. Keine Frage, in Minsk hat man hat man den zentralen Fluss nicht mit lärmigen Straßen umringt, sondern zu einem lauschigen Naherholungsgebiet gemacht.


Hügelige Gegend bei Рубяжзвiуы


Radeln auf der Autobahn (war nicht verboten, war auch keine Autobahn)


Minsk voraus


Ortseingang Minsk


Gefährliches Radeln in die Stadt hinein

Vier Tage Minsk

Kilometer Minsk, Tag 2: 12,80
Kilometer Minsk, Tag 3: 14,14



Regierungspalast am Unabhängigkeitsplatz
Ganze vier Tage gönnen wir uns für die Hauptstadt Weissrusslands. Und das ist eher das Minimum, denn Minsk regt an und fasziniert. Minsk ist die ideale Stadt zum Flanieren. Sie überrascht den Besucher fast hinter jeder Ecke mit neuen Perspektiven und Ausblicken, mit überwältigenden Straßenfluchten und Prunkbauten. Im Zentrum bilden stalinistischer Zuckerbäckerstil, klassische Moderne und zeitgenössische Architektur einen unvergleichlichen Stilmix.

In Minsk lässt sich gut mit dem Fahrrad fahren. Aber es will idealer Weise zu Fuß entdeckt werden. Als Reisevorbereitung diente uns das Buch "Minsk - Sonnenstadt der Träume" von Artur Klinaú (Edition Surhkamp, 2006), der seine Kindheit in Minsk zu Sowjetzeiten verbracht hat. Seine angstbesetzten Beschreibungen der sowjetischen Stadtplanung mit ihren Prachtstraßen und Prachtgebäuden werden dem Bild der Stadt allerdings kaum gerecht.

So empfindet er etwa den Leninplatz (heute Unabhängigkeitsplatz) als gigantisch und sieht im Regierungspalast den "Suprematismus der Macht, die alles über Sie weiß.“ Und weiter: "Selbst wenn Sie nur ein unverhoffter Passant sind, der sich zufällig in die Sonnenstadt verirrt hat. Die Geometrie des Palasts wird von einem schwarzen Lenindenkmal vollendet. Lenin schaut über den Platz, dorthin, wo die winzigen Passanten vorübergehen. Auf diesem Teil des Platzes sind nur wenige Menschen, hier gibt es keinen Ort, zu dem sie unterwegs sein könnten." (S. 32)

Woran mag es wohl liegen, dass wir den heutigen Unabhängigkeitsplatz mit seiner beeindruckenden Architektur als äußerst gelungenes städtebauliches Ensemble empfinden?


Straße der Unabhängigkeit (Prospekt Nyezalyezhnastsi)
Auf jeden Fall begeistert uns Minsk auf ganzer Breite. Und nicht nur die Stadt, sondern auch ihre Menschen. Beispiele gefällig? Nummer eins: Claudia möchte Postkarten verschicken und weiß nicht, welche Briefmarken dafür nötig sind. Sie betritt den Postpalast am Unabhängigkeitsplatz und findet sich in einem riesigen Raum mit Schaltern wieder. Orientierungslos hält sie einer Angestellten die Briefe vor die Augen und macht deutlich, dass sie Briefmarken braucht. Kurzerhand öffnet man nur für sie einen Schalter und bedient sie. Man freut sich offensichtlich, einer Ausländerin helfen zu können.

Nummer zwei: Wir wollen herausbekommen, ob man in Überlandzügen Fahrräder mitnehmen kann. Doch am Schalter im Hauptbahnhof spricht man kein Englisch. Eine wartende junge Frau, die Englisch spricht, sieht das Desaster, eilt herbei und übersetzt spontan.

Nur zwei Beispiele für die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Menschen im Weissrussland. Wir wundern uns, weshalb Nigel Roberts selbst in der 2015er Ausgabe seines Reiseführers zwischen und in den Zeilen immer wieder anderes behauptet.




Alt- und Neustadt: An der Heiliggeist-Kathedrale

Was angucken? (Kurze Aufzählung der wichtigsten Orte, für weiterführende Infos bitte Reiseführer konsultieren.)

  • Unabhängigkeitsplatz: Der ehemalige Leninplatz ist der größte Platz der Stadt. Hier befinden sich der Regierungspalast mit Lenindenkmal, der Postpalast, die Universität, die Kirche St. Simeon und St. Helena sowie die Stadtverwaltung. Zwischen diesen Gebäuden lässt sich in einem unterirdischen Einkaufszentrum gut shoppen.

  • Unabhängigkeits-Boulevard: Die zentrale Prachtstraße der Stadt verläuft vom Unabhängigkeitsplatz bis zum Siegesplatz. Hier befinden sich die wichtigsten repräsentativen Bauten, wie etwa die KGB-Zentrale, das Kaufhaus GUM oder der Palast der Republik.

  • Torhäuser am Bahnhofsplatz: Wer den Minsker Hauptbahnhof verlässt, blickt unweigerlich auf die beiden Türme der Torbauten, die im schönstem Zuckerbäckerstil erstrahlen.

  • Oktoberplatz (Oktyabrskaya): Dieser weite Platz beherbergt den Kulturpalast (erbaut 1954), das Museum für Kriegsgeschichte sowie an seinem Südende die Zentrale der Kommunistischen Partei.

  • Siegesplatz: Auf dem Platz am Nordende des Unabhängigkeits-Boulevards steht ein 40 Meter hoher Obelisk zum Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg.

  • Altstadt / Oberstadt: In der weitgehend rekonstruierten Altstadt von Minsk stehen die orthodoxe Heiliggeistkathedrale sowie die katholische Kathedrale der heiligen Jungfrau Maria. In den gemütlichen Gässchen gibt es zudem viele Restaurants und Bierkneipen.

  • Parks an der Swislotsch: Der zentrale Fluss der Stadt ist umringt von Parkanlagen. Auf der Südseite gibt es einen gut ausgebauten Radweg, der von den Minskern ausgiebig genutzt wird. Am westlichen Ende, unweit des Siegesparks, gibt es einen kleinen Fahrradverleih mit Bierausschank, der zu einer Art "Stammkneipe" von uns wurde.


Torhäuser am Bahnhofsplatz


Siegesplatz mit Siegessäule


An der Swislotsch


Oktoberplatz mit Palast der Republik

[Gesamtkilometer: 926,25]

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Alle Inhalte © Frank Spatzier 2015, alle Fotos © Frank Spatzier 2015
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