Radreise Baltikum - Süd-Skandinavien, Tag 4 - 5: Kaliningrad

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Tag 4 (20.7.): Frombork - Kaliningrad (RUS)

75,41 Km, Vmax 37 km/h, Vav 16,6 km/h, Gesamtkilometer: 259,78

  25 - 32 °C


Ostpreußische Allee zwischen Frombork und Braniewo
Heute bin ich früh wach, schon kurz vor sieben Uhr ist die Nacht zu Ende. Mir ist ein wenig mulmig zumute, denn heute soll es nach Kaliningrad gehen. Wird die Grenzabfertigung problemlos sein? Wie sind Straßenqualität und Verkehr? Im Vorfeld habe ich schon allerlei Beunruhigendes im Internet gelesen, doch im Grunde bin ich mir sicher, dass die heutige Etappe reibungslos verlaufen wird. Ich frühstücke ein paar stärkende Kekse, trinke einen Liter Orangensaft und mache mich an die leidige Abbauarbeit. Noch fehlt mir ein wenig die Übung, doch gegen neun Uhr ist das Rad komplett bepackt und ich bin bereit zur Abfahrt. Die Hunde von der Nachbarwiese schlafen noch, als ich aus dem Campingplatz heraus rolle und auf einer preußischen Bilderbuchallee nach Braniewo fahre.

In Braniewo (Braunsberg) sehe ich zum ersten Mal Straßenschilder nach Kaliningrad. Schnell habe ich die Kleinstadt hinter mir gelassen und radele über die ehemalige Reichsstraße 1 (heute: Fernstraße 54) auf die russische Grenze zu. Das Wetter hat sich mittlerweile verbessert. Aus einem immer wolkenloseren Himmel strahlt eine wärmende Sonne, und auch der laue Wind unterstützt mich durch einen leichten Schub von hinten. Der Verkehr auf der gut befahrbaren Landstraße ist minimal, und so bin ich schnell in Gronowo (Grunau), dem polnisch-russischen Grenzort. Hinter einer Straßenbiegung kommt der polnische Grenzposten zum Vorschein. Eine nette Beamtin will mein russisches Visum sehen, verzichtet dann aber darauf, nachdem ich den Pass mühsam aus meiner Tasche klauben muss.

Es folgen ein paar Meter Niemandsland, dann erscheint der erste russische Posten. Keine Spur von den berüchtigten Autoschlangen, außer mir steht nur ein müder PKW an der Schranke. Eine Beamtin schreitet auf mich zu und fragt mich etwas auf Russisch. Ich versuche es mit Englisch, leider erfolglos. Ihre nächste Frage lautet "Niemetz?", ob ich Deutscher sei. Ich bejahe und muss ein Einreiseformular ausfüllen. Dann darf ich passieren. Es folgt ein weiterer Streifen Niemandsland, dann stoppe ich vor dem eigentlichen Grenzgebäude. Auch hier ist nicht viel los, und ich reiche dem Grenzbeamten Pass und Einreiseformular in sein Kabuff. Ich höre Getippe auf einer Tatstatur, dann das Knallen von Stempeln. Man reicht mir meine Unterlagen und ich kann weiter. Nächstes Häuschen: die Zollkontrolle. Hier winkt man mich bloß vorbei. Zum Schluss muss ich noch eine Schranke passieren, die ohne weiteres Prozedere heraufgekurbelt wird, und schon bin ich in Russland.


Nur noch sechs Kilometer bis zur Grenze
Oder besser in der russischen Exklave Kaliningrad (kaliningradskaja oblast, Oblast Kaliningrad), die zwar die westlichste Großstadt Russlands beherbergt, jedoch keinerlei Verbindung zum Mutterland besitzt. An dieser Stelle soll ein kurzer historischer Exkurs erklären, wie es dazu kam:



Königsberg war eine pulsierende Großstadt in Ostpreußen, das zur Zeit der Weimarer Republik ebenfalls einen Exklavenstatus besaß und von einem keilförmigen Nordausläufer Polens vom Deutschen Reich abgeschnitten war. Daraus ergaben sich einige spezifische Problemlagen, besonders in ökonomischer Hinsicht. Um die Situation zu verbessern, unterstütze das Deutsche Reich Königsberg durch infrastrukturelle Verbesserungen. Man richtete etwa den ersten zivilen Flughafen Deutschlands ein und eröffnete die "Deutsche Ostmesse", die bis 1941 einmal jährlich stattfand und die Handelsbeziehungen zwischen Russland und Westeuropa verbesserte.


Auf der alten Reichsstraße 1, heute die russische A194
Während des von Adolf Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges blieb Königsberg lange Zeit unbehelligt. Zu weit ab lag der "Luftschutzkeller des Reiches" von den Flugrouten der alliierten Bomberflotten.

Erst im Sommer 1944 legten britische Bomber die Königsberger Innenstadt in Schutt und Asche. Im Januar 1945 rückte die Rote Armee zur Ostsee vor und zerstörte weitere Gebiete der Stadt. Es kam zu einer Massenflucht der deutschen Bevölkerung, nachdem der barbarische Gauleiter Erich Koch zuvor jegliche Fluchtbestrebungen als Defätismus unter Todesstrafe gestellt hatte. Wegen abgeschnittener Landverbindungen wagten Tausende die Flucht über das zugefrorene Frische Haff, viele fanden dabei ihren Tod. Noch heute sollen bei niedrigem Wasserstand Überreste der Flüchtlingstrecks aus dem Wasser ragen.

Am Kriegsende war Königsberg zur Unkenntlichkeit zerstört. Rotarmisten und einige wenige verbliebene Deutsche begannen, sich in den Ruinen neu anzusiedeln. Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 erfolgte schließlich die politische Aufteilung des ehemaligen Ostpreußen: Polen erhielt den südlichen Teil der Provinz (heute die Woiwodschaften Olsztyn und Suwałki), während das Königsberger Gebiet sowie das nordöstlich anschließende Memelland an Russland fielen. Letzteres wurde genau genommen von Litauen annektiert, das jedoch Republik der Sowjetunion war. Das Königsberger Gebiet wurde der direkten Kontrolle Moskaus unterstellt und war somit keine eigenständige Sowjetrepublik. Bedingt durch die strategisch vorteilhafte Lage an der Ostsee, erfolgte die Umwidmung zum "Besonderen Militärgebiet Königsberg".

Die von Stalin eher willkürlich gezogenen Gebietsgrenzen hatten bis zum Zwei-plus-Vier Vertrag, der 1990 im Zuge des Anschlusses der DDR an Westdeutschland geschlossen wurde, vorläufigen Charakter. Im Juli 1946 erfolgte schließlich die Umbenennung der Stadt in "Kaliningrad", und zwar nach Michael Kalinin, einem Weggefährten Stalins. Trotz einer zunehmenden kritischen Sichtweise bezüglich Stalins verbrecherischem Wirken im eigenen Lande konnte man sich bis heute zu keiner erneuten Umbenennung entschließen.


Noch 36 Kilometer bis Kaliningrad
So wurde die neue Stadt Kaliningrad auf dem Schutt des völlig zerstörten Königsberg errichtet, und zwar in sowjetischer Manier, was Städtebau und Architektur anbelangt. Der zivile Aufbau kam anfangs eher schleppend in Gang, was am Status der Stadt als militärischem Sperrgebiet lag. Davon abgesehen war sich Stalin lange Zeit nicht sicher, ob das Gebiet eines Tages wieder an Deutschland zurückfallen sollte. So kam es zu weiteren Zerstörungen, da man Bausubstanz, Kunstwerke, Infrastruktur und Industrieanlagen demontierte und nach Osten abtransportierte.

Zu Beginn der 1960er Jahre, als Kaliningrad nun doch endgültig Bestandteil der Sowjetunion bleiben sollte, folgte die eigentliche Neugestaltung der Stadt - und zwar unter sowjetischem Vorzeichen. Man sprengte das, was an baulicher Substanz noch aus preußischer Zeit übrig geblieben war, und dazu zählte etwa auch die Ruine des Königsberger Schlosses (heute der Zentralplatz mit Haus der Räte). In einem gewaltigen Neubauprogramm errichtete man die neue, funktional ausgerichtet Stadt, als die sich Kaliningrad im wesentlichen heute präsentiert. Erst in jüngerer Vergangenheit begann man mit der Restaurierung der noch vereinzelt existierenden preußischen Baudenkmäler, insbesondere des Königsberger Doms, der Jahrzehnte lang nur als Ruine auf der Insel im Pregel stand. Seit Februar 1991 ist das Kaliningrader Gebiet auch für westliche Besucher zugänglich.



Stadtgrenze Kaliningrad


Ortseingang Kaliningrad


Das Brandenburger Tor


Seitlich des Leninskij Prospekt, Höhe ehemalige Börse
Schneller als erwartet, rolle ich über russischen Asphalt. Und der ist um Welten besser, als ich es mir in meinen pessimistischen Phantasien vorgestellt habe. Der Verkehr ist auch sehr entspannt, und über allem scheint eine warme Sonne aus einem heiteren Himmel. Wieder einmal bin ich überrascht, wie reibungslos selbst kompliziertere Reisevorhaben häufig von Statten gehen. Nach wenigen Kilometern erreiche ich Mamonovo, das den Namen eines russischen Offizieres trägt, der hier gefallen ist. Außer einigen kleineren Plattenbauten sehe ich nicht viel vom ehemaligen Heiligenbeil, das durch seine Randlage innerhalb des früheren Sperrgebiets auch in kaum nennenswerter Weise wieder aufgebaut wurde. Ein paar ältere Leute laufen die Straße entlang, an einer Autowerkstatt geht es schon ein wenig lebhafter zu. Doch ansonsten dümpelt die Kleinstadt in der mittäglichen Hochsommerhitze vor sich hin.

Weiter geht es über die alleenhafte A194 auf Kaliningrad zu. Es folgt noch das ein oder andere Örtchen sowie die ein oder andere Ruine aus Preußischer Zeit. Bei Ušakovo (Brandenburg) erscheint linker Hand das Wasser des Frischen Haffs, das sich bisher hinter Wäldern und sanften Hügeln versteckt hielt. Mein Blick schweift hinüber zum gegenüberliegenden Ufer der Bucht, wo Tanks und Industrieanlagen zu erkennen sind.


Pregol′a (Pregel) und Dominsel
Der Verkehr nimmt stetig zu, je mehr ich mich Kaliningrad nähere. Einen Randstreifen gibt es leider nicht, ganz zu schweigen von einem Fahrradweg. Radfahrer sind im Kaliningrader Verkehr, wie ich noch merken werde, schlichtweg nicht vorgesehen. Trotzdem nimmt man auffallend viel Rücksicht auf mich. Auch große LKWs scheren in aller Regel weit aus, um mich nicht zu gefährden. Irgendwann zeigt ein schlichtes Ortsschild an, dass ich mich im unmittelbaren Stadtgebiet der Metropole befinde. Zwei Kilometer später verdichtet sich die aus Einzelhäusern bestehende Bebauung, dann folgt ein weiteres, diesmal kunstvoll über die Straße geschwungenes Ortsschild. Und schon bin ich mittendrin im Verkehrsgetümmel und habe durchaus Probleme, mich zu behaupten. Wenig hilfreich sind auch die riesigen Bordsteinkanten, die ein seitliches Ausscheren von vornherein verhindern.

Kurz darauf schlängelt sich die Straße eine Brücke hinauf, die die Gleise überquert. Anstelle des Asphaltbelages kommen gröbste Pflastersteine zum Vorschein, über die ich nur im Schritttempo fahren kann. Weder kann der Autoverkehr auf der engen Straße überholen, noch habe ich eine Chance, schnell über den hohen Bordstein auf den Bürgersteig zu entkommen. Und was machen die russischen Autofahrer? Sie warten geduldig ab, bis ich das hinderliche Nadelöhr passiert habe. Kein genervtes Gedränge, Gemache und Gehupe, wie man es von deutschen Benzinhirnis kennt, vielmehr umweht so etwas wie eine verständnisvolle Geduld die Situation.

Trotzdem verschwinde ich nach dieser Brückenerfahrung auf den Bürgersteig und schiebe mein Rad fortan. Nicht, weil ich Angst im Verkehr habe, sondern einfach, weil mir die Straßenqualität zu schlecht ist und der Verkehr zu viel Aufmerksamkeit erfordert. Zu schnell gerät man so in ein Schlagloch und beschädigt sich das Rad. Außerdem kann ich mir schonmal entspannt die Stadt anschauen, die im Übrigen recht überschaubar ist und sich auch zu Fuß gut durchschreiten lässt - jedenfalls bei gutem Wetter wie heute.


Blick vom Lininskij Prospekt auf die Dominsel
Es allerdings nicht ganz so einfach, mich anhand des veralteten Stadtplans zum Hotel vorzuarbeiten. Dieses liegt ausgerechnet im nördlichen Ende der Stadt, die ich gerade südlicher Richtung betreten habe. Ich muss Kaliningrad also einmal fast in seiner kompletten Nord-Süd-Ausdehnung durchwandern. Hinzu kommt, dass Straßenschilder rar und ansonsten kyrillisch beschriftet sind. So taste ich mich anhand durch ein lautes und geschäftiges Labyrinth.

Ich komme jedoch bestens voran, schiebe mein Rad über den Lenin Prospekt vorbei an der alten Börse, der Dominsel und dem Zentralplatz mit dem Haus der Räte. Es folgen noch der pl. Pobedy und der Markt, dann befinde ich mich schon auf der Straße, die zu meinem Hotel führt. Oder zumindest in das Viertel, in dem das dieses steht. Denn ich muss noch eine ganze Weile schieben und schließlich auch radeln, bis ich endlich das Hotel Albertina gefunden habe. Die Unterkunft liegt im Gebäude der ehemaligen Deutschen Botschaft in einer mit Wachposten versehenen Villenstraße. Diese grenzt allerdings an ein Neubaugebiet, das aus einer veritablen Ansammlung grauer Wohnblocks besteht und einen gewissen Kontrast zu der Villenstraße bildet. Wohl deshalb hat man es auch für nötig gehalten, einen Wachpisten einzurichten.

Im  Hotel Albertina erhalte ich ein mehr als großzügiges Zimmer im Dachgeschoss, das mich nur 53 Euro pro Nacht kostet. Ein einmaliger Preis bei dieser Zimmerqualität - und das fast inmitten einer russischen Ostseemetropole. Mein Rad kann ich in einer verschlossenen Garage anketten, so dass auch dieses Problem gelöst ist. Den Rest des Tages verbringe ich mit den üblichen Versorgungsritualen. Nur mit dem Unterschied, dass ich hier in Russland alle Modalitäten neu erlernen muss. Am schlimmsten ist dabei, dass ich keinen einzigen Rubel besitze, dafür einen Bärenhunger habe und irgendwo einkaufen muss. Ich frage die nette Dame von der Rezeption um Rat. Sie spricht ein wenig Englisch und erklärt, dass man in den Supermärkten Rubel tauschen könne! Tauschen? Im Supermarkt? Ich habe keine Ahnung, wie ich mir das vorstellen muss, und frage sie ein wenig genauer nach dem Prozedere. Soll ich etwa mit meinen Euros zur Kasse gehen und der Kassiererin zum Umtausch unter die Nase halten? Schnell stösst sie an ihre fremdsprachlichen Grenzen, und ich verlasse das Hotel in einem Zustand fortgeschrittener Ratlosigkeit.


Haus der Räte und der Moskovskij Prospekt
Ich verlasse die Villenstraße und gehe zielstrebig zu den angrenzenden Wohnblocks. Wo viele Leute wohnen, müssen auch Geschäfte sein, denke ich mir. Im Erdgeschoss eines grauen Plattenbaus entdecke ich sogleich einen kleinen Supermarkt. Unschlüssig schleiche ich mich herein und schaue umher. Keine Ahnung, wo ich hier Rubel herbekommen soll. Doch dann fällt mein Blick auf einen Geldautomaten in der Ecke. In meinem Gedächtnis schwirrt noch ein russischen Wort der Hotelfrau umher, das so ähnlich klang, wie die lateinische Aufschrift auf dem Gerät. Das war es also, was sie meinte! Mit Umtausch meinte sie schlichtweg Geldautomat, und diese gibt es in Russland in fast jedem Supermarkt. Leider nimmt die gelbe Maschine hier keine Master- und Maestrocard an, so dass ich mich mit knurrendem Magen nach einem größeren und modernerem Laden umsehen muss.

Ich dringe tiefer ein in die wenig beschauliche Großsiedlung vor, dann erspähe einen hallenähnlichen Flachbau mit typischen Supermarkt-Indizien. Und siehe da: Gleich neben dem Eingang befindet sich ein hochmoderner Geldautomat, den man sogar Mithilfe einer englischsprachigen Menüführung bedienen kann.

Bei aller Erleichterung fällt da die Frage weniger ins Gewicht, wie viele Rubel ich denn nun abheben soll. Denn vom aktuellen Kurs habe ich allenfalls eine vage Ahnung, und ebenso davon, wie viel Geld ich während meines Aufenthalts hier benötigen werde. Letzten Endes lasse ich mir eine eher zu gering bemessene Anzahl Rubelscheine ausspucken und durchkämme sodann den großen Supermarkt. Ich bin erstaunt, wie hoch das Preisniveau hier liegt. Es befindet sich nur knapp unterhalb des deutschen, was angesichts des niedrigen Lohnniveaus katastrophal für die Bevölkerung im neukapitalisierten Russland sein muss. Selbst ich als vergleichsweise wohlhabender Westeuropäer muss hier recht genau auf die Preise achten, um für ein laues Abendmahl inclusive Feierabendbier nicht zu tief in die Tasche greifen zu müssen.

Mit zwei Tüten voller Lebensmittel marschiere ich zurück ins Hotel und verbringe den restlichen Tag auf dem Zimmer. Mittlerweile ist es schon Abend geworden, und ein Gang in die Stadtmitte wäre zu aufwändig und weit. Und so mache ich es mir in meinem schönen Zimmer gemütlich und haue mir den Magen voll. Es gibt Kümmelbrot mit Räucherkäse, Schokoladenküchlein und Maisknäcke, dazu Orangensaft und Starkbier in praktischen 1,5-Liter Flaschen. Lecker.


Der Leninskij Prospekt


Haus der Räte und pl. Central′naja


Am ploščad′ Pobedy (Siegespaltz)

Tag 5, 21.7.: Kaliningrad

0 Km Fahrrad, ca. 25 km zu Fuß, Gesamtkilometer: 163,64 km

  28 - 37 °C


Die orthodoxe Erlöserkathedrale
Der Hochsommer hat zugeschlagen. Am frühen Vormittag verlasse ich das Hotel und schreite in eine saunaähnliche Hitzelandschaft. Kein Wölkchen trübt den Himmel, dafür brennt die Sonne aus Leibeskräften herab, so dass mir schon nach wenigen Metern der Schweiß herunter läuft. Ich lasse mein Rad in der sicheren Garage stehen und gehe zu Fuß in die Innenstadt.

Der Weg zieht sich, denn außerhalb des Stadtkerns ist Kaliningrad so aufregend wie jede andere mittelmäßige Wohngegend einer durchschnittlichen Großstadt. Besonders heruntergekommen wirkt hier allerdings nichts, einzig ein paar ältere Plattenbauten in zweiter Reihe könnten mal eine gründliche Sanierung vertragen. Das trifft zwar auch auf die kleineren Häuserzeilen der ersten Reihe zu, die aber könnten durchaus auch in Lübeck-Eichholz stehen. Dass man auf russischem Terrain wandelt, sieht man erst an den mobilen Kwass-Ständen. Dabei handelt sich um große Holzfässer auf Rädern, aus denen das Getreide-Gärgetränk in mitgebrachte Flaschen abgefüllt wird. Schon nach gut einem Kilometer habe ich soviel Durst, dass ich mir liebend gerne einen Liter Kwass abfüllen lassen möchte. Leider habe ich keine Flasche dabei, so dass ich darben und den nächsten Supermarkt aufsuchen muss.

Ich marschiere mitten hinein ins moderne Zentrum Kaliningrads, das sich beim pl. Pobedy befindet. Hier gibt es Einkaufsläden aller Art und Größe, die fast jeden Kundenwunsch erfüllen. Mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung lese ich hier zwar nicht die Namen der sonst so penetranten Filialisten, doch kaufen kann man hier sicher auch alles, was sich der moderne Konsummensch wünscht. Auch entsprechen die Kaufhäuser dem üblichen internationalen Standard, was bedeutet, dass auch hier überall flimmernde Werbemonitore hängen, Musik herumdudelt und der Kunde in klimatisierten Räumen nach Schnäppchen suchen kann.


pl. Pobedy mit Rathaus
Der pl. Pobedy (Siegesplatz) ist ein sehr weitläufiger Platz im Herzen der Stadt. Im alten Königsberg hieß er Hansaplatz, in der NS-zeit dann Adolf-Hitler-Platz. Wie auch damals befindet sich hier der größte Verkehrsknotenpunkt der Stadt. Hier treffen die großen Magistralen aufeinander, hier befinden sich die zentralen ÖPNV-Haltestellen sowie der (allerdings bedeutungslose) Nordbahnhof. An der Südostecke steht noch heute das 1923 von Hans Hopp erbaute Stadthaus mit seiner schroffen Fassade und fungiert als Sitz des Stadtrats. Der gegenüber liegende neoklassizistische Komplex beherbert den Nordbahnhof und einige Firmen. Insgesamt wirkt der riesige Platz sehr sauber und aufgeräumt, die darauf flanierenden Menschen entspannt und nett. So zum Beispiel bemüht man sich auffällig, mir während des Fotografierens nicht vor das Objektiv zu laufen. Vielleicht sind die Menschen aber einfach nur erfreut darüber, dass die noch eher seltenen Touristen ihre Heimatstadt zu würdigen wissen.

Mein nächstes Ziel: der pl. Cental′naja und das Haus der Räte. Bis Ende der 1960er Jahre befand sich auf einem Hügel über der Pregelniederung die Ruine des Königsberger Schlosses. Das große Hohenzollernschloss wurde während des Krieges stark beschädigt, allerdings nicht so sehr, dass ein Wiederaufbau unmöglich gewesen wäre. Einige Zeit stand die Schlossruine in Sichtweite zur Domruine, dann entschloss man sich zum Abriss des Gemäuers. Außer finanziellen und städtebaulichen Gründen hatten dabei auch ideologische Gründe eine wichtige Rolle gespielt. Leider betrieb man die Schleifung des Bauwerks mit ein wenig Zuviel an Leidenschaft und bemaß die Dynamitmenge zu hoch. Zur gleichen Zeit hatte man bereits damit begonnen, das Haus der Räte als Sitz der Oblastverwaltung zu errichten. Durch die heftige Sprengung wurde der Boden des Areals so sehr aufgelockert, dass sich der benachbarte Hochhaus-Rohbau immer weiter zum Pregel hin zu neigen begann.


Modernes Kaufhaus im Zentrum
Letzten Endes konnte das architektonisch sehr anspechende Gebäude nicht bezogen werden und steht bis heute als - allerdings recht wohlgestaltete - Bauruine inmitten Kaliningrads. Wo sich einst das Schloss und sein Hof befand, erstreckt sich heute die grandiose Brachfläche des pl. Central′naja. Es lässt sich trefflich über die Ästhetik eines kahlen und offenbar funktionslosen Platzes inmitten einer Großstadt streiten. Mein Eindruck aber ist, dass diese Fläche in Kombination mit dem Haus der Räte und den entfernteren Plattenbaukomplexen eine ganz eigene Atmosphäre ausstrahlt, die man so schnell auf der Welt nicht findet. Ich fühle mich hier jedenfalls auffallend wohl und muss mich nach längerer Zeit förmlich zwingen, zur Dominsel weiter zu gehen.

Die im Pregel gelegene Insel war früher der unumstrittene Mittelpunkt Königsbergs. Hier, im früheren Kneiphof, wanden sich enge Gässchen zwischen dichter Bebauung, drängten sich geschäftige Menschen über ein historisches Pflaster. Und über allem thronte die Domkriche mit ihren hohen Türmen. Wo zu preußischer Zeit noch konzentriertes Leben pulsierte, befindet sich heute nur noch eine gepflegte Grünanlage. Nichts erinnert mehr an das Gassengewirr, einzig der Dom markiert noch eine historische Wegmarke.

Ich erreiche die Dominsel über den Leninskij Prospekt, der auf einer weiten Brücke quer über den westlichen Teil der Insel führt. Über eine große Treppe steige ich hinab in den Park, der sich vor mir erstreckt. Auf einer der Sitzbänke mache ich eine kurze Rast und trinke russisches Mineralwasser, das vor lauter Spurenelementen nach gammeligem Metall schmeckt. Dann wandere ich auf das markante Gebäude zu und staune in seinem Schatten über die Wucht und Mächtigkeit, die es ausstrahlt. Dabei war der Königsberger Dom bis in die 1990er Jahre hinein eine ausgebrannte Ruine. Erst zu Zeiten von Glasnost begann man, ihn zu restaurieren. Allerdings mit zunächst mäßigem Erfolg: In Unkenntnis der morastigen Bodenbeschaffenheit pumpte man soviel Beton in das Gemäuer, bis es zu versinken begann.

Der Dom ruht seit seinem mittelalterlichen Baubeginn auf Unmengen von Eichenstämmen, die ihm Halt im weichen Boden geben sollen. Ganz versunken ist er nicht, aber als gelungen kann seine laienhafte Restaurierung auch nicht gerade bezeichnet werden. Auch deshalb spare ich mir die vielen Rubel für den Eintritt und belasse es bei einer langsamen Umschlenderung des Gemäuers. An seiner Nordseite befindet sich das Grab Immanuel Kants, der Königsberg zu seinen Lebzeiten kaum verlassen haben soll. Seinen Imperativ im Sinn, wandere ich zurück zur Treppe auf den Leninskij Prospekt.


Dom, Rückansicht


Die Honigbrücke über den Pregel


Der kahle pl. Central′naja


Wiederaufgebaute Häuserzeile
So lasse ich mich durch die Stadt treiben, wobei ich angesichts der Hitze zuweilen den Eindruck habe, mir ernsthaft einen Sonnenstich zuzuziehen. Ich marschiere nicht nur durch die touristisch interessanten Gebiete, sondern auch durch die Wohngebiete der Einheimischen. Dabei fällt auf, dass die Bausubstanz und Wohnqualität nicht derart schlecht zu sein scheinen, wie gelegentlich berichtet wird. Obwohl soziale Standards und das durchschnittliche Einkommensniveau im nunmehr kapitalistischen Russland auf recht ausbeuterischem Niedrigniveau dümpeln, ist von Armut in der Stadt wenig zu sehen.

Im Gegenteil, die Menschen legen erstaunlich viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres, und auf den Straßen sind viele Mittelklassewagen unterwegs. Bettler oder Obdachlos sind mir keine aufgefallen, was freilich nicht bedeuten soll, dass davon keine gibt. Angesichts der hohen Preise und niedrigen Löhne muss es viele mittellose Menschen geben, nur scheinen sich diese nicht in der Kaliningrader Innenstadt aufzuhalten.

Alles in allem bin ich positiv überrascht, denn die Stadt zeigt sich keinesfalls als ein heruntergekommener und von Moskau vergessener Ex-Sowjetmoloch, wie gerne behauptet wird. Vielmehr dürfte das russische Mutterland ein gewisses Interesse an seiner westlichsten Großstand haben, da hier ein strategisch wichtiger Zugang zur westlichen Ostsee besteht. Gewiss, vom alten Königsberg sind allenfalls nur noch vereinzelte Relikte zu bewundern. Dennoch ist auch hier der Trend zum Restaurieren und Bewahren erkennbar. Und auch ohne die alten Gemäuer aus dem untergegangenen Nord-Ostpreußen hat Kaliningrad genügend Interessantes zu bieten. Dabei ist es gerade die Andersartigkeit der Stadt, die ihren Reiz ausmacht - gerade weil sie eben russisch, und nicht mitteleuropäisch daherkommt.


Wohngebiet am Nordrand der Stadt

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